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Am Heiligen Abend leben freche Mädchen gefährlich
In Hohenlohe streichen die Rollenbuben und Rollesel wie Geisterscharen
durch die Dörfer - Altes Brauchtum wird noch gepflegt
Mit rußgeschwärzten Gesichtern, weißen Nachthemden
und Schellenriemen um die Schultern ziehen die Kinder durch die Heilige
Nacht. Von Haus zu Haus. Sie sammeln Gutsle und Geld. Dieser alte
Brauch wird heutzutage nur noch im nordwürttembergischen Ilshofen
gepflegt.
Mit beiden Händen manscht Johannes Groh (14) in der Mehlschüssel
den Papierkleister an. Wie Johannes so dasteht im noch nicht ganz
ausgebauten Dachgeschosszimmer seines Elternhauses in Wolpertshausen,
zwei Köpfe kleiner als die Längsten der Horde, würde
man nicht vermuten, dass Johannes mit seinen von Klammern und Drähten
zusammengehaltenen Zahnreihen heuer der Anführer der Kohorte
von so genannten Rollenbuben ist, die an Heiligabend durchs Dorf ziehen
- und den Mädchen Furcht einflößen. Der
Neuntklässler bestreicht geduldig einen Papierstreifen nach dem
anderen mit der Mehlpampe: Er formt seine Handfläche zu einer
Muschel, löffelt damit den Kleber wie mit einer Schöpfkelle.
Dreizehn Buben, alle zwischen zehn und fünfzehn Jahre alt, kennen
sich von der Schule und aus der Jungschar, manche auch vom Fußball.
"Mich haben sie vermutlich als Häuptling gewählt, weil
bei mir zu Hause am meisten Platz ist", sagt Johannes. Vielleicht
auch deshalb, weil Mutter Groh die Buben an den Adventssonntagen vor
Weihnachten mit Kuchen und Saft versorgt. Währenddessen basteln
die Jungen an ihrem Kopfschmuck, dem fast wichtigsten Kleidungsstück
für den seltsamen Mummenschanz. Meistens nehmen sie die Hüte
vom Vorjahr - aber auch die müssen dringend aufgemöbelt
werden. Weil die Gruppe dieses Jahr deutlich angewachsen ist, müssen
einige Hüte neu fabriziert werden. Dazu nimmt man die Schultüte
eines Abc-Schützen. Da deren Papprand aber hart ist und später
schwer auf Stirn und Schläfen drückt, wickelt Klaus aus
einer Kunststoffmatte eine Tüte. Lage um Lage wird sie mit Papierschnipseln
aus voll geschriebenen Schulheften beklebt. Festgezurrt und ums Kinn
gebunden wird der eigentümliche Kopfputz mit den ausgedienten
Hosenträgern des Großvaters. Was in Wolpertshausen "Flenderlich"
aus alten Klassenarbeiten sind, wird in Steinbach mit Buntpapier beklebt,
in Gaugshausen mit einem Gewöll aus Glitzerpapier und in Haßfelden
mit Stroh. Wichtigstes Requisit der Rollenbuben - daher haben sie
ihren Namen - ist der über die Schulter geschnallte Rollriemen
mit unterschiedlich großen Glocken. Sie wurden früher winters
den Schlittenpferden um den Hals gebunden. Lautes Gebimmel kündigt
deshalb von den nächtlichen Umtrieben in den Hohenloher Dörfern.
Aber auch die dumpfer klingenden und größeren Kuhglocken
werden verwendet, so genannte Ochsenroller. Früher benutzte sie
der Bauer, "dass der Kneecht net einschläft und dass dr
Bauer härt, ob r (der Knecht) noch ackert". Mit zur
Ausstattung der Rollesel gehören Haselnuss- und Schwarzdornstecken,
die sich die Buben selbst geschnitten haben. Sie unterstreichen noch
ihr martialisches Aussehen. Aus Hans Roths, des schreibenden Bauern
Feder stammt eine volkskundliche Untersuchung über den vorweihnachtlichen
Brauch, der nachweislich nur in dem der freien Reichsstadt Hall unterstellten
Amt Ilshofen gepflegt wurde. Ilshofen ist ein winziges Landstädtchen,
halbwegs zwischen Hall und der bayerischen Landesgrenze gelegen, mit
dreizehn Dörfern. "D Rolleisl kumma", sagen die
Einheimischen "etz isch Weinachda." Bei einbrechender Nacht
kündigen sich die vermummten Gestalten mit Gebimmel und Getöse
an. Während sie in einem Teil der Gemeinden ihre Gesichter mit
Ruß und Rindertalg unkenntlich machen, trägt man in den
anderen Dörfern Masken. In manchen Orten heißen die Gruppen
Rollesel, in anderen Rollenbuben - gemeint ist das Gleiche. Allen
gemein sind kreuzweise über die Schultern getragene Riemen. Früher
zogen sie stumm durch die Straßen und wirkten dadurch noch dämonischer.
Würden sie reden, sagten sie "tät man merken, dass
mir Leut sind". Woher die Rollenbuben aus der Ilshofer Gegend
kommen? Hans Roth hat die Alten in der Gegend befragt und immer wieder
gehört, "d Rolleisl, dia hats scho gewa, wia i a klaas
Kiind wor"; andere erwiderten "scho immer". Doch
der Hobbyvolkskundler ist skeptisch, ob es sich um einen heidnischen
Brauch, eine Beschwörung von Fruchtbarkeit oder eine Ritualisierung
des Lichts handelt. In keinem Archiv hat er von den vorweihnachtlichen
Umzügen gelesen. Roth erinnert sich an seinen Großvater,
der als Rollesel durch den Ort zog, und nimmt dies als relativ sichere
Datierung. Dass der gewiss mehr als hundert Jahre alte Brauch ausschließlich
in evangelischen Gemeinden und auch heute noch vorwiegend von Buben
betrieben wird, wertet Roth als einen selbst gewählten Freiraum
der Bauernbuben, die früher fast nur Pflichten zu erfüllen
hatten. Noch vor einigen Jahrzehnten sind die Rollesel dreimal durchs
Dorf gezogen, ehe sie in die Häuser gingen. Doch weil die Gemeinden
inzwischen ziemlich gewachsen und die Straßen länger geworden
sind, rollen die Buben nur noch einmal durchs Dorf, ehe sie an die
Türen klopfen. Weihnachtsgebäck und Geldgaben in Empfang
nehmen und ein gutes neues Jahr wünschen. Ausschau halten die
dunklen Gestalten aber auch nach jungen Mädchen. Besonders die
frechen hat Klaus dabei im Visier, die "entführt" und
zwei Häuser weiter wieder freigelassen werden. Mitmachen dürfen
die Buben nur bis zur Konfirmation. Dann ist es mit dem Rollenspiel
vorbei. Früher bedeutete das auch den endgültigen Abschied
von der Kindheit. Text: Martin Geier
Aus: "in Baden-Württemberg 4/2002" Fotos: Alois Krafczyk
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