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Fruchtsäule, Festzelt, Ferkel
König Wilhelm I. stiftete 1818 das
„Landwirthschaftliche Fest zu Kannstadt“
von Wulf Wager
Bunt blinkende Lichter, Quietschen und Rattern von unbekannten
Maschinen, der Duft von gebrannten Mandeln, Göckele und Steckerlfisch,
fröhliche Menschen jeglichen Alters, dazwischen der immer wieder
zu hörende Ruf des Kapellmeisters in einem der großen Festzelte:
„Die Krüge
hoch!“ Kein Zweifel, in Bad Cannstatt ist wieder Volksfestzeit.
Rund vier Millionen Festfreudige tummeln sich alljährlich seit
dem Jahr 1818 auf dem größten Schaustellerfest der Welt.
Der unvorstellbar gewaltige Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien
1815 führte zu einer klimatischen Katastrophe in Europa. Durch
die Explosion wurden rund 100 Kubikkilometer Gestein, Asche und
Staub bis in 70 Kilometer Höhe geschleudert und verdunkelten
den Himmel. Die Sprengkraft entsprach etwa 170.000 Hiroshimabomben.
Die Druckwellen waren in 1500 Kilometern Entfernung noch wahrnehmbar.
Zehntausend Menschen starben direkt durch den Ausbruch, rund hunderttausend
durch die Folgen. Denn die Staubteilchen wurden durch Luftströmungen
um die ganze Erde verteilt und verursachten sogar noch in Europa
Missernten und Hungersnöte.
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Volksfesttreiben im 19. Jahrhundert. Im Hintergrund
die Fruchtsäule und die Pferderennbahn, die
auch zur Präsentation von Zuchtvieh genutzt wurde.
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Der Winter 1815/16 war in Württemberg der kälteste, seit
es Wetteraufzeichnungen gibt. Der folgende Sommer fiel aus. Die
Kartoffeln verfaulten in den Äckern. Schnee bis in den Mai
und lang anhaltende Regenfälle, peitschende Gewitter und Hagel
in den Wachstumsperioden wechselten einander ab und machten das
Einbringen von Ernten in den Jahren 1815 und 1816 nahezu unmöglich.
Im ganzen Land hungerten die Menschen. Das wenige Mehl, das noch
vorhanden war, wurde mit Sägemehl gestreckt, zur Aussaat gesteckte
Kartoffeln wurden wieder ausgegraben. Die Not der Bevölkerung
war unbeschreiblich.
Schlechter konnte die Ausgangslage des jungen König Wilhelm
I., der 1816 Württembergs Regent wurde, nicht sein. Sein Schwager,
Zar Nikolaus von Russland, half mit Getreidelieferungen das größte
Elend zu lindern.
Als dann im Jahr 1817 der erste Erntewagen wieder eingebracht wurde,
kam König Wilhelm und seiner russischen Frau Katharina die
glorreiche Idee, ein landwirtschaftliches Fest zu stiften, das alljährlich
am Geburtstag seiner Majestät, am 28. September, auf dem Cannstatter
Wasen stattfinden sollte.
Zum ersten Fest 1818, das nur einen Tag dauerte, strömten mehr
als 30.000 Besucher, und das zu einer Zeit, da die Oberamtsstadt
Cannstatt selbst nur etwa 3000 Einwohner hatte. Das Fest sollte
die Bauern ermutigen. Als Belohnung für herausragende landwirtschaftliche
Leistungen stiftet das Königspaar Geld- und Ehrenpreise.
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Cannstatter Volksfest auf einer Postkarte um 1900
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Zur gleichen Zeit gründete das beliebte Monarchenpaar eine
landwirtschaftliche Unterrichtsanstalt auf Schloss Hohenheim und legte
damit den Grundstein für die heutige landwirtschaftliche Fakultät.
Diese und andere herausragende Leistungen, wie die Entwicklung des
zweischarigen Pfluges, der noch heute als „Goldener Pflug“
im Deutschen Landwirtschaftsmuseum in Hohenheim zu bewundern ist,
verschafften dem jungen Monarchen die Titel „König der
Landwirte“ und „Landwirt unter den Königen“.
Vom Landwirtschaftsfest zum Volksvergnügen
Die Prämierung von Zuchtleistungen der württembergischen
Bauern und die Darstellung der landwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
waren die zentralen Themen des Festes. Doch schon beim ersten Fest
siedelten sich im Umfeld der Agrarleistungsschau Versorgungs- und
Schaustellerbuden an. Sie lockten mit Sauerkraut und Würsten,
allerhand süßen Leckereien, ein Markt ergänzte die
kulinarischen Angebote. Das fahrende Volk stellte die stärksten
Männer, die dicksten Frauen und sonstige Kuriositäten
zur Schau. Mit der Zeit wurde das „Landwirthschaftliche Fest
zu Kannstadt“ zum Cannstatter Volksfest, wuchs und gewann
an Bedeutung. Im 19. Jahrhundert dauerte es nur einen einzigen,
später drei, dann vier und ab den 1920er Jahren schließlich
fünf Tage. Zu Beginn der 1950er Jahre wurde der Wasen auf zunächst
zehn, später zwölf und seit 1972 auf die heute üblichen
sechzehn Festtage ausgedehnt.
Anfangs gab es nur wenige so genannte Volksfest-Buden mit Schaustellern
und Bierausschank. Sie wurden zugunsten der königlichen Loge
und der Honoratiorentribünen an den Rand des eigentlichen Festgeländes
verbannt.
Bereits 1860 kam es infolge der zunehmenden Schaustellerzahlen zu
der heute typischen Anordnung in drei Hauptstraßen und zahlreiche
Nebenstraßen, um den von Jahr zu Jahr wachsenden Besucherzahlen
genügend Platz zu lassen. Heute machen rund 350 Betriebe das
Cannstatter Volksfest zum größten Schaustellerfest der
Welt. Rund vier bis fünf Millionen Besucher lockt der Wasenspaß
an.
Schmuckstück vom Hofbaumeister
In den ersten Jahrzehnten konzentrierte sich das Hauptgeschehen
des landwirtschaftlichen Festes auf das Vorführoval, an dessen
dem Neckar zugewandten Seite König Wilhelm eine Tribüne
mit Königsloge bauen ließ. Damit beauftragte er seinen
Hofbaumeister Nikolaus Thouret, der auch den Cannstatter Kursaal
erbaut hatte.
Dieser schuf mit der hoch über der Königsloge in denHimmel
ragenden Fruchtsäule ein bäuerliches Erntedanksymbol,
das noch heute Wahrzeichen des Cannstatter Volksfestes ist, obwohl
das Landwirtschaftliche Hauptfest nur noch alle drei Jahre stattfindet.
Die 23 Meter hohe Fruchtsäule trägt an ihrer Spitze eine
mit den Früchten des Feldes gefüllte Schale und wird nur
vom größten transportablen Riesenrad der Welt überragt.
Zu König Wilhelms Zeiten fanden in der Arena zu Füßen
der Tribüne Pferderennen, Viehkörungen und Festzüge
statt. So auch der berühmte, zeichnerisch komplett festgehaltene
„Festzug der Württemberger“, der zum 25- jährigen
Regierungsjubiläum König Wilhelms stattfand.
10.000 Württemberger aus allen Oberämtern marschierten
zur Huldigung des Monarchen durch Stuttgart und anderntags über
das Volksfestoval – der erste Volksfestumzug!
Heute ist der Umzug am ersten Festsonntag einer der Höhepunkte
des Cannstatter Volksfestes. Rund hundert historische Gruppen von
der Bürgerwehr über Schäfertanzgruppen und berufsständische
Festwagen bis hin zu Trachtengruppen und Musikkapellen gestalten diesen
farbenprächtigen Lindwurm. Immer noch nehmen Trachten- und Berufsgruppen
am Umzug teil, die bereits 1841 mit dabei waren. Besondere Höhenpunkte
sind Festwagennachbauten aus dieser Zeit.
Lichterglanz und Mandelduft
Das Volksfest ist längst ein Landesfest geworden. Klar, dass
auch das Südwestfernsehen regelmäßig davon berichtet.
Die Eröffnung am ersten Volksfestsamstag, der Volksfestumzug,
der „Fröhliche Feierabend“, ein „Treffpunkt“
und weitere Berichterstattungen der Landesschau unterstreichen die
Bedeutung des Festes.
Den schönsten Reiz übt das Cannstatter Volksfest in den
frühen Abendstunden aus. Die bunt flackernden Lichter der Geisterbahnen,
der Autoscooteranlagen, der Karussells, des Freefall-Towers und der
vielen rasanten Schaustellergeschäfte, bei denen es einem schon
beim Zuschauen schwindlig wird, vermengen sich mit den vielfältigsten
Düften von gebrannten Mandeln, Steckerlfisch, Pizza und anderem
mehr zu einem die Sinne betörenden eigenwilligen Gemisch.
Wer’s deftig mag, muss sich rechtzeitig einen Platz in einem
der großen Festzelte sichern. Hier fließt das Bier in
Strömen und schnell tobt die von den Musikanten angeheizte
Stimmung in den Abendstunden, sodass kurzerhand das ganze Zeltpublikum
auf den Bänken steht und singt. Wer sich diesem kollektiven
Biertaumel entziehen möchte, findet in einem der kleineren
Bierzelte oder in den gemütlichen Weinzelten ein lauschigeres
Plätzchen.
Hier kann man sich mit seinem Tischnachbarn unterhalten und ein oder
zwei Viertele mehr trinken. Schließlich gibt es in Cannstatt
eine weltweit einmalige Initiative,die Heimweghilfe. Wer mit dem Auto
auf den Wasen kommt und mehr getrunken hat, als es die Straßenverkehrsordnung
zulässt, kann sich im eigenen Kfz von einem ehrenamtlichen Fahrer
der Heimweghilfe nach Hause fahren lassen. Schließlich ist der
Führerschein schon bei 0,3 Promille gefährdet, also bereits
nach einer halben Maß. Der Service ist kostenlos, lediglich
die Taxikosten für die Rückfahrt des Fahrers müssen
bezahlt werden.
Natürlich heißt es auch auf dem Cannstatter Volksfest
„schneller, höher, weiter“. Die Angebote der Schausteller
werden immer spektakulärerer und wilder. Kaum überschaubar
ist die Zahl der Fahrgeschäfte, in denen man um die eigene
Achse vertikal, horizontal und dann auch noch gewirbelt und gedreht
wird. Besser man fährt solche Turbomaschinen vor dem Genuss
einer Maß und eines Göckeles. Doch auf dem Cannstatter
Wasen haben auch die Traditionsgeschäfte ihren Platz: ein über
hundert Jahre altes Kettenkarussell, das seine Runden zum Klang
eines alten Orchestrions dreht; der Vogeljakob mit seinen Vogelpfeifchen,
die stärksten Männer der Welt, der Weltmeister der Scherenschneider,
Wahrsager und das gute alte Kasperletheater. Trotz der schrillen
und alles dominierenden Welt der elektronischen Medien ist das Cannstatter
Volksfest ein Ort des Außergewöhnlichen, des Exotischen
und des bunten Fremdartigen; ein Fest das alle Sinne berührt,
Tradition und Moderne miteinander verknüpft und das zu besuchen
sich für die ganze Familie lohnt.
Sendetermine des Südwestfernsehens
Samstag, 24. September 2005,11 Uhr
Volksfest-Eröffnung
Sonntag, 25. September 2005,20,15 - 21.45 Uhr
Volksfest-Umzug
Freitag, 30. September 2005, 20.15 -21.15 Uhr
Fröhlicher Feierabend
Sonntag, 2. Oktober 2005, 18.45-19.15 Uhr
Treffpunkt
Außerdem täglich in der Landesschau
Baden-Württemberg ab 18.45 Uhr
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