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Heimat

von Tilmann G. Gangloff ?
Heimat Was für ein Wort! Nicht bloß ein Begriff, vielmehr ein Mythos, kaum in Worte zu kleiden. Und wenn doch, dann in jedem Fall unzureichend. Denn Heimat ist für jeden etwas anderes: für den einen bloß der Stadtteil, für den anderen die Region, für den Dritten gleich das ganze Land.
 
Heimat: wo bloß beginnen! Zum Beispiel im Internet: 122 Einträge bei „Metager“. Die Suchmaschine für deutsche Suchmaschinen fördert allerlei Kuriosa zu Tage. „heimat.de“ zum Beispiel ist ein Kulturserver für Aachen, Berlin, Düsseldorf und Köln, vier Städte also, die außer ihren Traditionsclubs im Fußball kaum etwas gemeinsam haben; Köln und Düsseldorf schon mal gar nicht, zumindest aus radikal subjektiver Sicht. „kalte-heimat.de“ klingt nicht von ungefähr so ähnlich wie „Alte Heimat“ und führt auch just dorthin: direkt nach Ostpreußen. Wer’s nicht weiß oder stur ignoriert: Das ist „ein Teil Deutschlands, ganz ähnlich wie die Pfalz oder Westfalen oder auch das Elsass“ (heißt es auf der Website). Aber warum bloß „Kalte Heimat“? Ganz einfach: Die Internet-Anschrift „alte-heimat.de“ war schon vergeben; da waren die Ewiggestrigen offenbar nicht rasch genug im 21. Jahrhundert. „Alte Heimat“ ist übrigens ein Lokal auf Mallorca im Herzen von Perguera, Spezialität: Paellas aller Art.
 
Natürlich gibt es auch eine „neue-heimat.de“. Das bezieht sich allerdings nicht auf die alte „Neue Heimat“, sondern ist im Gegenteil vom gewerkschaftlichen Wohnungsbau so weit entfernt wie Königsberg von Aachen; es handelt sich um einen Verein aus Weilheim/Teck, der Veranstaltungen organisiert. Ob man dort auch politisch aktiv ist, gibt der Internet-Auftritt nicht preis. Das gleiche gilt für die „Heimat Seite“, denn die entsteht erst noch. Eher unpolitisch und vermutlich alles andere als rebellisch sind auch die „Heimat Rebellen“; dem Namen zum Trotz handelt es sich um ein Volksmusik-Duo, das aussieht, als sei es mitsamt seiner Harmonika in der Retorte gezüchtet worden.
 
Ach ja, Heimat: deine Lieder, deine Sterne; Heimaterde, Heimatland (1939 und 1955), Heimatlos (1942 und 1958). Als Filmgenre hast du viele Millionen in die Kinos gelockt. Von 1950 bis 1960 machten Heimatfilme fast ein Viertel der deutschen Filmproduktion aus. Hans Deppe, der schon für Joseph Goebbels „Blut-und-Boden“-Filme gedreht hatte, markierte den Anfang der Welle mit „Schwarzwaldmädel“ (1950) und „Grün ist die Heide“ (1951). Diese Sehnsucht nach der heilen Welt, die in Wirklichkeit vor den Kinotüren in Schutt und Asche lag, kann vermutlich nur verstehen, wer sie selbst erlebt hat. Immerhin 20 Prozent der westdeutschen Bevölkerung waren zu jener Zeit „Vertriebene“, hatten also ihre Heimat (die „alte“) verloren. Dass die junge Republik in der Lage war, diese knapp zehn Millionen zu integrieren, ihnen relativ reibungslos eine neue Heimat zu geben, grenzt eigentlich an ein Wunder. Allerdings hat es ja auch nicht bei allen geklappt; noch heute fühlen sich viele als Vertriebene, obwohl sie die Vertreibung bewusst kaum mitbekommen haben dürften.
 
Der Heimatfilm sorgte mit seiner Utopie von der unberührten Natur (gern in der Bergwelt) als willkommene Ablenkung für die sprichwörtlich schönen Stunden und tröstete auch über den drohenden Werteverlust hinweg, jenen Tribut, den das Wirtschaftswunder forderte. Die äußerliche Modernisierung hatte ihren Preis; innerlich mussten die Menschen, wenn auch aufs Heftigste widerstrebend, ebenfalls Abschied nehmen. Der Begriff „Heimat“ war (und ist für viele) daher gleichbedeutend mit dem Bewahren traditioneller Werte – oder, wie es Günter Netzer wohl sagen würde: deutscher Tugenden. Werteerhalt also gegen Mischkultur (neudeutsch Multikulti), Nationalismus gegen Internationalismus. Und Patriotismus? Darf man stolz sein, ein Deutscher zu sein, bei allem, was in deutschem Namen an Verbrechen begangen worden ist? Heimat, deine Zweifel ...
 
Und Heimat, deine Bräuche. Deutscher ist man auch, na klar; aber vor allem doch Badener, Schwabe, Rheinländer, Sachse, Bayer. Trachten, Volksfeste, Liedgut, Brauchtum: Folklore. Der Stadl-Hasser kriegt da gleich einen dicken Hals, weil er den Moik nicht mag, doch Folklore ist in Wirklichkeit Leitkultur – alles, was ein Volk ausmacht und was sich mündlich überliefern lässt, mithin Märchen und Sagen, Tanz und Spiele, Sprichwörter und Gesang. Heimat also als Sinnstifterin, als nie versiegende Identitätsquelle – eine Trösterin in schweren Stunden. Und ein Refugium im Zeitalter des „global village“, des virtuellen globalen Dorfes, das die Menschen in der ganzen Welt näher zusammenrücken lässt, weil sie in Sekundenschnelle miteinander kommunizieren können. Ein frommer Trugschluss, wie man spätestens seit dem 11. September 2001 weiß. Die Gräben sind eher noch größer geworden.
 
Ohnehin: Je rasanter der Verkehr über den Daten-Highway dahinsaust, desto größer wird die Sehnsucht, einmal innezuhalten, auszusteigen. Die einen können selbst im Urlaub von ihrem „Notebook“ nicht lassen, die anderen gönnen sich nicht mal den kleinen Nachrichtenhunger zwischendurch: kein Fernsehen, keine Zeitung, kein Internet. Und machen Ferien in Deutschland, weil Reisen so teuer geworden ist; und „Deutschland ist schön“, wie man aus der Werbung weiß. Fast ein „Heilsschlaf“ also, zumindest in medialer Hinsicht. Der Begriff stammt von Sebastian Haffner, meint aber etwas ganz anderes. Haffner bezeichnete damit die eskapistischen Versuche der Deutschen, nach dem Zweiten Weltkrieg die jüngste Vergangenheit zu ignorieren.
Wie man es dreht und wendet: Am Ende droht also immer Fluchtgefahr. Auch ein gutes Stichwort. Heimat als Refugium, im Wortsinne diesmal: als Fluchtpunkt für den reumütigen Heimkehrer. Jeder, der nach langer Zwischenzeit („Zwanzig Jahre später“, heißt es dann im Film) an die Stätte seiner Kindheit zurückkehrt, kennt den Effekt: Alles ist viel kleiner als in der Erinnerung. Und prompt wird man übermannt von einer Vielzahl widersprüchlicher Gefühle, manche schön, andere eher schmerzlich. Erste Zigarette, erster Rausch, erste Liebe. Und schließlich: erster Abschied, von der Kindheit. Im Osten veröden oder vergreisen ganze Landstriche und Stadtteile, weil die Jugend ihr Glück im Westen sucht. „Fesseln spürt nur, wer sich bewegt“, sagt der Sponti; Heimat auch. Heimat spürt nur, wer zum Migranten wird, wer sich entwurzelt. Manch einer nimmt dabei wenigstens seine Zeitung mit, lässt sich per Post sein Regionalblatt in die Fremde nachschicken. Dort trifft es zwar einen Tag später ein, aber ob man nun heute oder morgen von den Höhepunkten des Dorffestes liest, ist grad’ egal; Hauptsache Nabelschnur.
 
Auch das Fernsehen kann diese Funktion erfüllen: eben nicht als Fenster zur Welt, sondern in den Hinterhof. Wie schön, dass man „sein“ Drittes Programm empfangen kann, wo immer man sich aufhält. Wie schade, dass Heimatverbundenheit offenbar eine Frage des Alters ist: Den Tageszeitungen gehen vor allem die jüngeren Leser verloren, und auch im Fernsehen werden mit regionalen Informationssendungen (von regionalem Brauchtum ganz zu schweigen) in erster Linie ältere Zuschauer erreicht.
Heimat ist also eine Herausforderung: für die Medien, weil sie einen Weg suchen müssen, den Begriff attraktiv mit Leben zu füllen; und für die Menschen, weil Heimat gestaltet werden will. Wer Heimat bloß hinnimmt, der hat bald keine mehr. Heimat heißt Einfluss nehmen, mitbestimmen, prägen, Spuren hinterlassen. Edgar Reitz geht sogar noch weiter und sagt, man müsse seine Heimat täglich aufs Neue erwerben. So bekommt der Begriff „Heimatpflege“ eine ganz neue Dimension: Heimat will umworben werden. Das klingt anstrengender, als es ist; es reicht womöglich schon, seine Heimat mit offenen Augen wahrzunehmen.
Mit seiner Saga HEIMAT hat Reitz Fernsehgeschichte geschrieben: Im Herbst 1984 kamen wir alle aus dem Hunsrück. Zehn Wochen lang war Schabbach Deutschland, ein Brennglas für die wechselvolle Geschichte nicht nur der Familie Simon, sondern des ganzen Landes. In DIE ZWEITE HEIMAT (1992) begleitete Reitz den jungen Hermann Simon nach München. Das „Hermännsche“ hatte sich entwurzelt und schaute dabei zu, wie die gesamte Republik es ihm in den Jahren zwischen 1960 und 1970 gleichtat; danach waren beide nicht mehr dieselben. Nun kehrt Hermann zurück. Er ist jetzt fünfzig und hat viel durchgemacht, genauso wie sein Land, dessen Geschichte Reitz ebenfalls fortschreibt: HEIMAT 3 beginnt 1989. Und weil zur Heimat mittlerweile einige Bundesländer dazu gekommen sind, hat sich Reitz mit Thomas Brussig der Unterstützung eines Ko-Autors versichert, der ein ganz spezielles Verhältnis zu jenen Veränderungen hat, denen eine Heimat im Lauf der Zeit ausgesetzt ist: Mit „Helden wie wir“ und „Sonnenallee“ hat Brussig gewissermaßen die jüngere Geschichte der DDR geschrieben. Sie wird in HEIMAT 3 ebenso eine Rolle spielen wie das Schicksal ganz anderer Heimatloser, deren Probleme die Gesellschaft allenfalls am Rande wahrnimmt: In die leer stehenden Wohnungen, die einst die im Hunsrück stationierten Alliierten beherbergten, ziehen Russland-Deutsche ein. Eigentlich müsste man diese Menschen fragen, was Heimat ist. Sie haben die alte Heimat freiwillig preisgegeben, um in eine neue Heimat zu ziehen, die irgendwie trotzdem die alte Heimat ist – ganz schön kompliziert.
 
Tilmann P. Gangloff
 
Aus: Doppelpfeil 04/2002
 
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