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Von den Druiden auf dem Weihnachtsmarkt
haspel-press
Die Mistel galt lange Zeit als Heils- und Glücksbringer
„In der Mitte der Decke dieser großen Küche
hatte der alte Mr. Wardle soeben mit eigenen Händen einen großen
Mistelzweig aufgehängt, und der Mistelzweig wurde im Handumdrehen
der Urheber eines allgemeinen und recht erfreulichen Durcheinanders,
inmitten dessen Mr. Pickwick ... die alte Dame bei der Hand nahm,
sie unter den mystischen Mistelzweig führte und nach altem Herkommen
küsste.“
So schildert Charles Dickens 1837 in seinem „Pickwick
Papers“ eine weihnachtliche Szenerie, die wir als typisch britisch
empfinden. Mistelzweige unter der Decke gehören zur englischen
Weihnacht wie Plumpudding und Santa Claus.
Aber auch auf dem Kontinent hat die Mistel längst Einzug in die
Wohnzimmer gehalten. Wer dieser Tage über einen Weihnachtsmarkt
bummelt, findet sie überall: grüne Zweige mit ovalen Blättern
und weißen Beeren, oft mit einem roten Band zusammengebunden.
Die Mistel dient heute vor allem als dekorativer Weihnachtsschmuck;
dabei wird vergessen, dass sie jahrhundertelang ihren festen Platz
in der Volksmedizin wie in der Mythologie hatte und als Heilpflanze
wahre Wunder bewirkte. Nur alte Beinamen wie Hexenkraut, Donnerbesen,
Drudenfuß und Kreuzholz erinnern noch daran, dass die Mistel
für Abwehrzauber eingesetzt wurde.
Es dauerte einige Zeit, bis die Menschen herausfanden, warum die Mistel
nur auf Bäumen wächst und wie sie dort hinauf kommt: Als
Schmarotzer benötigt das Gewächs einen Wirtsbaum. Die Samen
der klebrigen Beeren werden durch Vogelkot verbreitet, dann treibt
sich nach etwa einem Jahr ein Samenkeil in das Holz des Baumes; einmal
„ansässig“, ernährt sich die Mistel schließlich
von den Säften des Baumes. Lange Zeit jedoch schien die Mistel
direkt vom Himmel zu fallen, und als immergrüne Pflanze stach
sie besonders im Winter auf den kahlen Laubbäumen hervor. Diese
Vorstellung eines „Himmelsgeschenks“ ist wohl einer der
Gründe, warum der Mistel von Anfang an heils- und glücksbringende
Kräfte zugeschrieben wurden.
Eifrige Leser von „Asterix“ wissen es: Die Gallier
(oder Kelten) schnitten mit goldenen Sicheln Misteln von den Bäumen
und brauten daraus Zaubertränke – wie der Druide Miraculix,
der zu diesem Zweck manch fröhlichen Waldspaziergang unternahm,
kurzweilige Begegnungen mit römischen Legionären mit eingeschlossen.
Nach den Berichten des römischen Naturkundlers Plinius des Älteren
verlief das Mistelschneiden vor rund 2000 Jahren allerdings etwas
feierlicher: Nach umfangreichen Zeremonien stieg der weiß gekleidete
Druidenpriester auf den Baum und schnitt mit einer goldenen Sichel
eine Mistel ab, die in einem weißen Tuch aufgefangen wurde –
denn man glaubte, die Heilkraft der Pflanze gehe verloren, sobald
sie den Boden berühre. Danach opferte man zwei weiße Stiere.
Die Kelten sahen in der Mistel ein vielseitig anwendbares Mittel:
sie sollte unfruchtbares Vieh heilen und gegen alle Gifte helfen.
Nach Plinius nannten sie die Mistel auch die „Allesheilende“.
Auch in christlicher Zeit noch galt die Pflanze als Heil- oder
Glücksbringer. In Haus oder Stall aufgehängt schützte
sie vor Hexen, bösen Geistern, Blitzschlag und Unglück.
Ins Futter gemischt sollte sie Krankheiten beim Vieh verhüten.
Jäger trugen sie auf der Pirsch, damit ihnen das Jagdglück
hold sei. Als magische Kraft sollte sie den „Hexenbann“
lösen. Eine „verzauberte“ Kuh, die beim Melken ausschlug,
wurde angeblich durch drei Schläge mit einem Mistelzweig wieder
zahm. Wenn eine böse Hex’ einem armen Mann gar Impotenz
angezaubert hatte, so half eine Mistelsalbe. Selbst in der technisierten,
modernen Welt hatte die Mistel noch nicht ausgedient: Wenn in einem
Eisenbahnwaggon eine Mistel liegt, dann kann der Zug nicht entgleisen
– glaubte man jedenfalls noch um die Jahrhundertwende.
Volksglaube und Medizin gingen lange Hand in Hand. Im 16. Jahrhundert
finden Kräuterbücher durch den Buchdruck große Verbreitung;
in keinem fehlt die Mistel. Sie soll „allerley geschwulst zertheilen“
und gut für die „fallende sucht“ (Epilepsie) sein.
Misteln „helffen dem Schwindel und nehmen die Blödigkeit
des Hirns hinweg“, heißt es bei Hieronymus Bock, einem
der berühmtesten Kräuterärzte des Mittelalters. Auch
als Aufputschmittel wurden sie angepriesen: „Sie schärffen
den Sinn und das Gedächtnis ... und seyend trefflich gut vor
studirende und gelehrte Leut“. Als sich die Medizin im 19. Jahrhundert
zur strengen, exakten Naturwissenschaft entwickelte, sank die Mistel
zunächst vom Allheilmittel zur Bedeutungslosigkeit hinab. In
einem Arzneimittelhandbuch von 1890 taucht sie nicht mehr auf, lediglich
ihr Leim wird noch zur Pflasterherstellung empfohlen.
Inzwischen ist die Mistel jedoch rehabilitiert. Sie wird heute
– in Kombination mit Knoblauch- und Weißdornauszügen
– gegen Bluthochdruck und Arteriosklerose verwendet und in der
anthroposophischen Medizin zur Krebsbehandlung eingesetzt. Eine lückenlose
wissenschaftliche Beweisführung der Wirkung gegen Krebs steht
allerdings noch aus. Als sicher gilt allerdings inzwischen, dass der
Mistelextrakt Substanzen enthält, die das Immunsystem anregen,
damit die körpereigene Abwehr gegen Krebszellen stärken
und auf indirektem Weg tumorhemmend wirken.
Hatte die Mistel in der naturwissenschaftlichen Medizin des
19. Jahrhunderts ausgedient, so tauchte sie um die Jahrhundertwende
überall in Europa in Kunst und Kunsthandwerk auf. Der Jugendstil,
der sich gegen die damals vorherrschende Kunstrichtung des Historismus
wandte, entdeckte Pflanzen als neues Motiv; neben Seerosen, Weinranken
und Orchideen auch die Mistelzweige. Die Kunsthandwerker des Jugendstils
verzierten damit allerlei Gebrauchsgegenstände wie Schalen, Vasen
und Becher oder versuchten, den natürlichen Wuchs der Pflanzen
nachzubilden und funktional in die Dinge einzuarbeiten, wie zum Beispiel
in Bestecke und Kämme, deren Griffe Mistelzweigen nachgebildet
waren.
Auch auf Postkarten, die etwa seit 1870 in Deutschland in Gebrauch
kamen, war die Mistel ein beliebtes Motiv. Weihnachts- und Neujahrskarten
aber auch Hochzeitskarten trugen oft das Abbild der glücksbringenden
Pflanze. Die neuen Möglichkeiten der Fotografie wurden für
besonders kitschige Kreationen genutzt. Da findet man weißgekleidete
kleine Mädchen mit mistelbeladenen Schlitten, kecke junge Damen,
die aus einem herzförmigen Rahmen aus Mistelzweigen schauen,
und verliebte Pärchen unter dem Mistelzweig.
Tannenzweige, schneebedeckte Winterlandschaften und Weihnachtsmänner
gehören heute wieder zu den beliebtesten weihnachtlichen Postkartenmotiven.
Die Mistel begegnen uns nur noch in natura auf dem Wochenmarkt, für
ein paar Euro das Bündel. Für viele Landwirte ist das ein
willkommener Nebenerwerb zur Weihnachtszeit, denn wer erklimmt noch
selbst den Wipfel, um mit güldener Sichel oder einer schlichten
Säge den „mystischen Mistelzweig“ zu ernten?
haspel-press, Tübingen
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