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Ein sentimentaler Schlager mit himmlischer Ru-huh!
Stuttgarter Zeitung vom 24.12.1999
Der Weihnachtshit „Stille Nacht, heilige Nacht“
und seine politisch unkorrekten Variationen - Proletarische Persiflagen
auf ein bürgerliches Fest
Richtig anstimmen lässt es sich nie. Mal ist es zu tief, mal
ist es zu hoch. Fürs „Schlafe in himmlischer Ru-huh“
werden die Stimmbänder gequetscht, bis sie schmerzen - und dennoch
bleibt „Stille Nacht“ auch im 182. Jahr seines Erdenlebens
der Weihnachts-Welthit Nummer 1.
300 Übersetzungen zählt die internationale Stille-Nacht-Forschung;
bei den Parodien hat man das Zählen längst aufgegeben. Gesungen
wird das Lied im afrikanischen Busch ebenso wie in japanischen Industriezentren,
in den amerikanischen Disneyparks ebenso wie in Millionen bürgerlicher
Wohnstuben - und immer auch in Kreisen, die mit Weihnachten am liebsten
gar nichts zu tun hätten.
Bei der Stille-Nacht-Gesellschaft im salzburgischen Oberndorf, also
dort, wo das Lied am Heiligabend 1818 uraufgeführt wurde, haben
Forscher jetzt eine Reihe politisch nicht ganz korrekter „Bearbeitungen“
vorgestellt. In ihnen wird dem Lied sozusagen das Mäntelchen
der gutbürgerlichen Bravheit ausgezogen - und so mancher Eiseshauch
weht um den Christbaum.
Mit der Spaltung der Gesellschaft in Gesättigte und Industrieproletariat
ist „Stille Nacht“ auch ein Mittel der Sozialkritik geworden.
Diese kann sentimental sein wie in einer Fassung aus dem Jahr 1894:
„Stille Nacht, heilige Nacht, ringsumher Lichterpracht, in den
Hütten ist Elend und Not; kalt und öde und auch kein Brot,
schläft die Armut auf Stroh.“ Dieser Variante war ein langes
Leben beschieden. 1926 noch schrieb die Fürsorgerin eines Berliner
Mädchenheims: „Dieses Lied hat eingeschlagen. Es wird abgeschrieben,
gelernt, wie sonst nur Liebeslieder und Schlager. Dabei nicht nur
von Mädchen, die von Hause her links sind; es ist allgemein beliebt.“
Sentimental beginnt auch die Fassung von Boreslaw Strzelewicz aus
dem Jahr 1890: „Stille Nacht, traurige Nacht. ‘Hast du
Brot mitgebracht’? fragen hungrige Kinderlein. Seufzend spricht
der Vater: ‘Nein. Bin doch arbeitslos!’“ Das Lied
endet kämpferisch; so als hätte sich die Sozialistische
Internationale eine zweite, eine auch in christlichen Ohren verträgliche
Hymne geben wollen: „Stille Nacht, traurige Nacht. Arbeitsvolk,
aufgewacht! Kämpfe mutig mit heiliger Pflicht, bis die Weihnacht
der Menschen anbricht, bis die Freiheit ist da.“
Als die Behörden den für einen Zehnstundentag streikenden
Textilarbeitern von Crimmitschau im Jahr 1900 sämtliche Weihnachtsfeiern
verboten, sangen diese trotzig: „Heilige Nacht, heißt
tobt die Schlacht, und es blitzt und donnert und kracht. Friede auf
Erden die Christenheit singt, während der Arm das Schwert mutig
schwingt, kämpfend für Freiheit und Recht!“
Wer sein Weihnachtsfest im Krieg verbringen musste, dachte wehmütig
an zu Hause - und sang: „Stille Nacht, heilige Nacht, Deutschland
hat mobil gemacht! Frankreich liegt in großer Not, Russland
schlagen wir mausetot. England kommt noch dran.“ Diese Variante
datiert aus dem Ersten Weltkrieg und stammt aus dem Rheinland. Im
Zweiten Weltkrieg bemächtigten sich die Nazis des Liedes. „Stille
Nacht, heilige Nacht. Deutschlands Söhne halten Wacht. In den
Schützengräben verschneit, liegen wir Mann für Mann
bereit, lauern bei Tag und bei Nacht.“ Aber weil keine ideologische
Umdichtung gegen das Original gewinnen konnte, gestattete die Oberste
Heeresleitung auch dessen Verbreitung. An Weihnachten 1942 durften
Soldaten von allen Frontabschnitten, live sozusagen, die „Stille
Nacht“ im reichsdeutschen Radio singen. Die gutbürgerlichen
Jahre des Wiederaufbaus wurden 1968 wüst gestört - und just
in dieser Zeit kamen neue Persiflagen des Liedes zum Vorschein: „Stille
Macht, heilige Macht, viele zahlen, Horten lacht“, beginnt eine
konsumkritische Fassung. Auch die Tradition des Arbeiterliedes wird
fortgeführt: „Stille Nacht, heilige Nacht, Weihnachtsgeld
wird gebracht durch Herrn Ruprecht vom Lo-hohnbüro. Schweigend
geht die Belegschaft aufs Klo, zählend, wie viele Krümel
gnädig vom Herrntisch gefall'n.“ Diese Version endet mit:
„... pfeifen wir auf die Gnade der Herrn, übernimmt mal
das Volk den Konzern und die Führung im Staate. Das wird ein
Weihnachtsfest wer’n!“
Für Berlin-Kreuzberg bleibend aktuell dürfte eine Parodie
aus dem Jahr 1970 sein: „Stille Nacht, heilige Nacht, trotzdem
Kampf und Straßenschlacht. Nur der Biedermann einsam pennt,
weil er die Revolution verkennt. Schnarche in trauter Ruh!“
Wie wohltuend dagegen die gewiss an Goethe gereifte Poesie eines einsamen
deutschen Schiffsjungen um 1880: „Stille Nacht, heilige Nacht,
mit Wehmut diesmal durchwacht. Weißgelb sinkt die Sonne ins
Meer, still war die Wüste rings umher. Die Segel schlagen auf
und nieder! Lieb heil’ger Christ, gib Wind uns wieder!“
Neuerdings findet sich der Weihnachtshit auch im Internet. Die Adresse
heißt nicht „Gute Nacht, Österreich“, wie bereits
vermutet, sondern www.stillenacht.at. Dort gibt’s alles zum
Komponisten Franz-Xaver Gruber und zum Texter Joseph Mohr. Gesangsmuffel
können sich das Lied (nur in braven Versionen!) als Tondatei
laden - original oder exotisch. Die Fassung mit dem „aloha-e“
ist hawaiianisch und erfordert begleitendes Hüftkreisen. Tunlichst
vor dem Festbraten.
Aus: Stuttgarter Zeitung vom 24.12.1999
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