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Heimat, ein modernes Niemandsland
von Edgar Reitz
Heimat war schon immer etwas, das wir verloren haben: Im Erwachsenenalter
bedeutet sie „Land der Kindheit“, das meist aus Erinnerungen
und Sehnsüchten besteht. Als romantisches Symbol für Herkunft
und verlorene Kindheit hat sie viele Poeten, Denker und andere Nestflüchter
zu Liedern, Bildern oder philosophischen Betrachtungen inspiriert.
Trotz aller Heimat-Nostalgie der letzten Jahre wird das in Zukunft
anders sein.
Die neue Faszination heißt Mobilität, weltweite Kommunikation,
individuelle Freiheit. Der moderne Mensch reißt seine Wurzeln
aus und wendet den Blick nicht zurück. Heimat ist kein Schicksal
mehr. Wer die Orte der Kindheit heute verlässt, zieht nicht „in
die Welt hinaus“, sondern bewegt sich im bekannten Raum: Über
ferne Landschaften, unterschiedliche Kulturen, lokale Politik, über
Lebensstandards, Lebensstile oder modische Neuheiten sind wir Kinder
der modernen Konsumgesellschaften durch Markt und Medien informiert,
ganz unabhängig vom jeweiligen Ort. Ständig finden wir das
gleiche Angebot an Waren und Wissen, wir essen, trinken und kleiden
uns im Einheits-Stil der Weltbevölkerung. Wenn ein Inder, Japaner
oder Bayer entschlossen seine Tracht anlegt, weiß er, dass er
in Folklore macht, und, wie wir wissen, hat auch die ihren Markt.
Heimat bleibt zwar das Land der Kindheit, aber es unterscheidet sich
kaum mehr von den Kindheitsländern anderer Kinder: Die Spielzeuge,
die moderne Kinder bekommen, die Filme, Videos und Computergames,
die man später mit den Freunden teilt, die Inlineskates, die
Lieder und Tanzstile vereinen alle Kinder in einer Weltheimat. Alle
haben die gleichen Vorbilder in Werbung, Internet, Fernsehen, sogar
in der Art, sich auf der Straße zu bewegen. Nicht einmal das
Sentiment kommt bei den Kindern der hoch technisierten Industrievölker
zu kurz: Ein deutsches Kind unserer Zeit wird zwanzig Jahre später
einem anderen begegnen, das in Spanien, Amerika oder Japan aufgewachsen
ist, und vor Rührung weinen, denn es hatte im gleichen Jahr ein
Tamagotchi, einen Rolli. Bei der Kennmelodie von Windows 95 werden
eines Tages hunderttausende von „Usern“ Tränen der
Erinnerung vergießen. Ganz neue Gefühle sind durch diese
frappierenden Gemeinsamkeiten entstanden. Unsere Heimat ist jetzt
die Zeit, nicht mehr der Ort. Aber soll man das noch Heimat nennen?
Moderne Kinder kennen, wie die Kinder früherer Zeiten auch, die
unverwechselbaren Gefühle, die nichts mit globaler Weltsicht
zu tun haben. Da ist zum Beispiel der Ortssinn, der uns an unbeschreibbaren
Atmosphären, am Geruch der Erde, am Wind, an Lichtrichtungen
oder Geländeformationen erkennen lässt, wo wir uns befinden,
in Heidelberg, in Augsburg, Bielefeld oder Lemgo. Warum rührt
uns im Erwachsenenalter der Anblick der Flüsse, eines Weinbergs,
eines Kartoffelackers, und warum lassen die Wälder uns an Märchen,
wilde Tiere, ausgesetzte Kinder oder an Geister denken? Warum ziehen
wir zu Tausenden an die nebelverhangenen Küsten, was suchen wir
da? Warum fasziniert die Seefahrt den liebeskranken Jungen, warum
ist der Baggersee der Ort der ersten Liebe, warum erzählt der
Wind Geschichten? In den letzten Jahren hat diese Art von Gefühlen
sich auf merkwürdige Weise nach innen verzogen, sie sind „uncool“,
man kann sich nicht mit ihnen zu erkennen geben. Man ist mit solchen
Gefühlen fremd in aller Welt. Ebenso ergeht es mit den Mundarten.
Als Folklore sind sie lustig, als Schicksal aber inakzeptabel. Heimat
und Dialekt, das war einmal eine Einheit. Beides bedeutete Nähe
und Bindung. Die Globalisierung sucht aber eine andere Einheit: in
der Ferne. Sie will Weite und Ungebundenheit, will sich nicht von
lokalen Verhältnissen bestimmen lassen. Die amerikanische Kultur,
die der Globalisierung ihr Vokabular und ihren Stil aufgeprägt
hat, ist heute viel attraktiver als die aufregenden Heimat-Erfahrungen
europäischer Kinder in ihrem Kiez, ihren Dörfern oder Landschaften.
Paris mit seinen zahllosen Gerüchen und Quartiers-Geschichten
ist kein attraktiver Ort mehr für coole Leute aus Deutschland,
München mit seinen Brezn und Biergartengerüchen kann coole
junge Franzosen nicht auf eine Reise locken. Das Gemeinschaftsgefühl
einer ganzen Generation versagt, wenn es um die Liebe zu den speziellen
Erinnerungen geht. Mitten im riesigen „Global Village“
wimmelt es von geheimen Orten, von denen jeder ein Abbild in sich
trägt, Orte, an denen Medien und Mode abprallen, die nicht propagiert
sein wollen, die jeder einmal auf seine Weise betreten hat: Ich meine,
dass unbemerkt auf der inneren Landkarte zahlloser Menschen ein zweites
Land existiert. Das eine bewohnen sie, das andere ist darin versteckt.
Es besteht aus realen Orten und Dingen, aus Menschen, Wahrnehmungen
und frühen Selbstverständlichkeiten. Es ist ein modernes
Niemandsland, ein Land ohne Dialekt und ohne Namen, das trotz aller
Jugendmoden und globaler Faszinationen voller kindlicher Gefühle
und Erinnerungen ist. Vielleicht könnte dieses Niemandsland,
das für jeden, wenn er daran denkt, woanders liegt, wieder Heimat
heißen.
Aus: Sonntag Aktuell vom 12.08.01
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