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Eugen Ernst

Klassisch oder fetzig? - Tracht contra Landhausmode


Landhausmode heute

Der Landhausstil heute ist eine Kleidermode, die gegenwärtig eine Hochkonjunktur erlebt. Unentwegt sorgen zuschauerstarke, volkstümelnde Fernsehsendungen und Herz-Schmerz-Veranstaltungen in Festzelten für diesen Zustand. Und auch Moderatoren wollen sich im "schönen Outfit" des noblen "Landlooks" übertreffen. Diese Modeerscheinung kann wie alles "Modische" kurzlebig sein. In diesem Fall vermute ich jedoch, dass sie länger Bestand hat, als es trachtenpuristisch Gesinnten lieb ist.

Funktion der Trachten

Wenden wir uns lieber der "echten" Tracht zu. Schon die Sprache verrät uns, dass jene Kleidungsstücke gemeint sind, die alle in einem bestimmten Wohnumfeld tragen. Tracht ist somit ein Gemeinschaftsmerkmal. Alle Mitglieder eines Sozialverbandes, d.h. eines Dorfes, einer Stadt oder einer Region, machen sich mit der Tracht für alle anderen "erkennbar". Trachten sind, wo sie noch unverfälscht getragen werden, Mittel der innerörtlichen Verständigung. Sie zeigen, in welcher sozialen und konfessionellen Gruppe oder in welchem familiären Stand man sich befindet, ob man verheiratet, ledig oder verwitwet ist, ob man reich oder weniger "betucht", ob man jung oder alt und ob man zu arbeiten oder zu feiern gewillt ist. Im Laufe eines Lebens wechseln die Trachtenstücke bei einer Person.
Manche Trachtengebiete sind besonders reich ausgestattet. So zeigt die Frauentracht im Marburger Land und in der Schwalm (Hessen) die ganze Breite der kunstvollen Gestaltung der einzelnen Lebenssituationen. Festgefügte Trachten verändern sich - gelegentlich nur in kleinen Teilstücken erkennbar - oft von Talschaft zu Talschaft, ob in Bayern oder in Tirol, ob im Wesergebiet oder im Wiesental des Schwarzwaldes. In dem sowohl naturräumlich wie territorialgeschichtlich kleingekammerten Hessen ist die Fülle der Trachten schier unübersehbar. So kontrastieren zum Beispiel die bunten, reichen Trachten des landwirtschaftlich ertragreichen Schwalmgrundes oder des Kinzigtales mit den farblich zurückhaltenden Trachten im hessischen Hinterland oder im oberen Dilltal.
Im Zuge der Verstädterung in den Gründerjahren des 19. Jahrhunderts setzte besonders im Einflußbereich von Großstädten eine zunehmende Vereinfachung oder gar ein Verzicht auf die Trachten ein. Sie entsprachen nicht mehr dem Lebensgefühl der Industriegesellschaft. Bei wachsender Technisierung der Arbeitsplätze und des Verkehrs erwiesen sich viele Trachten eher als hinderlich bzw. sogar als lästig wie etwa beim Benutzen des Fahrrades. Es entstanden sogar neue "Kleiderordnungen", die eher nivellierend wirkten, z.B. die Sportmoden und die Berufskleidung.
Lediglich auf dem stadtfernen "flachen Lande" bestimmten die Trachten noch lange die Dorfbilder. Die "Trachten-Wiedergeburten" der Jugendbewegung um 1900 und des "Wandervogels" seien hier nur nebenbei erwähnt, ebenso die völkisch bewerteten, zum Teil uniformierten "Trachten" der NS-Zeit, die einer kritischen Beurteilung bedürften, weil sie Einstellung und "Werte", ja sogar politische Überzeugungen transportieren sollten.
In städtischen Haushalten Hessens kam es noch bis in die 50er Jahre vor, dass Dienstmädchen vom Lande ihre Tracht zu tragen hatten, um den nostalgischen Erwartungen ihrer Arbeitgeber zu entsprechen oder um den Standesunterschied zu der modern städtisch gekleideten Oberschicht zu dokumentieren.

Tracht als Show

Seit einigen Jahrzehnten wird eine kommerzielle Variante der Trachtennutzung sichtbar. Es gibt Trachtengruppen, die sich folkloristisch vermarkten oder vermarkten lassen. Sie tauchen dabei (zum Teil mit geschminkten Lippen und Fingernägeln) in das Schaugeschäft einer Art Kostümball. Weil dort oft "historische Treue " suggeriert und die Tracht (meist ein Trachtenverschnitt) mit dem Heimatbegriff in Verbindung gebracht wird, ist eine gewisse Verlogenheit unverkennbar.
Dennoch: selbst eine "sekundäre" Verwendung von Trachten, zum Beispiel bei Volkstänzen, kann sinnreich sein, wenn die Trachten erläutert, d.h. ihr "Sitz im Leben" aufgedeckt und vermittelt wird als Beitrag zu einer ehrlichen Sozialgeschichte der Dörfer. Trachten verführen zu leicht zu einer Verfälschung der Realität; das Dorfleben war nie eine "heile Welt", und die "gute alte Zeit" hat es nie gegeben.
Trachten, die man nicht begriffen hat, die man "just for fun", also nur zum Spaß trägt, sind Trugbilder. Eine kulturhistorische und zugleich bildungspolitische Leistung bestünde darin, sich von professionellen Volkskundlern beraten zu lassen, um Trachten bedeutungsgerecht darstellen zu können. Die Fachinstitute der Universitäten können helfen, eine falsche Trachtenmentalität zu korrigieren und Trachten- und Volksmusikgruppen vor Irrwegen zu bewahren. Die mit den Trachten gemeinhin verbundene Sehnsucht nach einer angeblich früher vorhandenen Ganzheit und einem vormaligen Idealzustand trübt den Blick für die Wahrheit. Anderen mit Trachten und Volkstanz eine Freude zu machen, ist sicherlich gut, aber zu wenig. Auch über der bloßen Freude kann man bewußtlos werden.
Wenn Trachtentragen heute helfen soll, Traditionsabbruch zu vermeiden, dann bedürfen sie der Einbindung in jenes soziale Umfeld, aus dem sie stammen, d.h. der Darstellung der Welt, die sie hervorgebracht und erhalten hat. Andernfalls verkommen sie zu nostalgischen, die historische Wahrheit verbiegenden Kostümen.
 
Aus: "Deutsche Trachtenzeitung", Heft 4, 2000,
 
Anmerkung: Der Verfasser ist Mitbegründer und langjähriger Leiter des Freilichtmuseums "Hessenpark" in Neu-Anspach und Prof. Emeritus für Didaktik der Geographie an der Universität Gießen.

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