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Ein Wirtshaus-
liederbuch zum Volksmusiktag



Seid reinlich bei Tage und säuisch bei Nacht,
so habt ihr’s im Leben am weitesten gebracht.
Johann Wolfgang von Goethe

„Im Schwabenland gibt’s gar keine Gelegenheit, die nicht auch Gelegenheit zum Singen gäbe. Unter den vornehmeren Ständen, in Gesellschaft von so genannten Gebildeten hält man es zwar für etwas unschicklich, sogleich auch mit einem Liede hervorzutreten; aber lass den Wein wirken, und der Volkscharakter kann sich nicht verleugnen, und alte Herren mit verschiedenen Orden im Knopfloch und ergrauten Schnurrbärten auf den Lippen öffnen einen fast vermoderten Schrank des Gedächtnisses, und alte Trink- und Liebeslieder aus längst verschwundenen Jugendzeiten werden hervorgesucht, und nachher gesteht man, nie fröhlicher gewesen zu sein“, so beschreibt der württembergische Pfarrer und Schriftsteller Carl Theodor Griesinger 1839 das Singen im Schwabenland.
Von alters her sind Wirtshäuser Zentren des gesellschaftlichen Lebens. Orte der Kommunikation. Hier werden Bedürfnisse befriedigt. Wenn der Hunger gestillt und der Durst fürs Erste gelöscht ist, ist das Feld bereitet für die Stunden der Lieder. Zart beginnt das Singen zunächst mit Volksliedern und Schlagern. Sie entspringen der puren Lust und sind Ausdruck einer inneren Behaglichkeit.1 Lieder vermischen sich mit Geschichten, mit Erinnerungen, mit Witzen. Doch das ist nur das Vorspiel zu einem deftigen Finale, das mit dem fortschreitenden Genuss von Bier, Wein und Schnaps hemmungsloser und moralisch locker und immer lockerer wird. Es wird lebhafter und der Mensch ist eingestimmt in einer rauchgeschwängerten und mit Bierduft erfüllten Atmosphäre, die man niemals erzwingen kann, die sich ergibt, wenn die richtigen Leute aufeinander treffen. Jetzt ist die Stunde der Lieder, die von den Volksliedsammlern gerne aus den einschlägigen Publikationen ausgesperrt wurden. Es sind die Wirtshauslieder, die sich mit den Idealen der Volksliedsammler so gar nicht decken. Manches von dem in diesem Zustand zum Besten Gegebenen würde man im nüchternen Zustand niemals singen. So ist vieles, was in diesem Wirtshausliederbüchle wiedergegeben ist, derb und vulgär, sogar ordinär, wenn man es außerhalb des Wirtshauses und außerhalb der Stimmung singt, in der es ausschließlich zu Hause ist. Aber jeder kennt Beispiele aus der unteren Schublade der Volksseele und kann sie nach zwei, drei Gläsern Wein oder Bier selbst mitsingen oder zum Besten geben. Die Lieder nach moralischen Gesichtspunkten zu werten, ist müßig – und ungerecht. Sie dienen ausschließlich dem Moment und der Situation – nicht der Kulturkritik.
Wer diese Lieder in der richtigen Stimmung singen mag, für den soll dieses Liederbüchle eine Gedächtnisstütze sein. Die Stimmung, in der das Wirtshauslied nur leben kann, ist eine eigentümliche, kaum beschreibbare Mengelage aus Persönlichkeiten mit Liedrepertoire, Alkoholgenuss und dem Raum, in dem dies zusammentrifft – dem Wirtshaus. „Wer eine solche Situation je miterlebt hat, weiß, dass sie sich nicht erzwingen lässt. Sie taucht urplötzlich auf, sie muss wachsen. Und sie wächst mit den Anwesenden … So wird viel erzählt um die Wirtshauslieder herum, allerhand Spitzbubereien und Bossa, allerhand Schwänke um einstige Sänger und deren Lieder.“2
Württemberg darf getrost als die Wiege des deutschen Sängerwesens bezeichnet werden. Kaum ein Sammler und Bearbeiter hatte im 19. Jahrhundert so großen inhaltlichen Einfluss auf das Chorwesen wie der Tübinger Musikdirektor Friedrich Silcher. Wenngleich nicht kritiklos. Der schwäbische Dichterfürst und Arzt Justinus Kerner (1786–1862) war der Ansicht, „durch die Liederkränze geht der echte Volksgesang verloren … Dieser verliere durch das schulmeisterliche Eindrillen der Lieder und das ängstliche Sortieren und Hinaufschrauben der Stimmen … sein Ursprüngliches, man merke überall den Taktstock heraus und das Bestreben, es den Städtern nachzuahmen. Auch die Lieder seien meist keine Volkslieder mehr; durch Liederkränze seien aus Lerchen Dompfaffen gemacht worden, die nach Orgelpfeifen singen.“3
Die Volksliedforscher und -sammler hatten ihre liebe Mühe mit den ungestümen Darbietungen und dem zweifelhaften Repertoire im Wirtshaus. Sie wollten gerne „wertvolle“ und „schöne, echte“ Volkslieder sammeln. Elard Hugo Meier, Herausgeber des „Badischen Volkslebens im 19. Jahrhundert“ konstatiert: „Auf dem hohen Schwarzwald … werden auch noch in wein- und biererregter Stimmung neue Lieder erfunden, wenn nicht auch neue Weisen; es sind aber nur die derb spaßigen und oft satirischen vierzeiligen Rappeditzli, Schnaderhüpfle von wenig Wert“.4 Gerade die Vierzeiler, die bei uns Schnitz (von aufschneiden, Lügengeschichten erzählen) oder Rappeditzle genannt werden, sind eine wichtige Gattung des Wirtshausrepertoires, die ausreichend Spielraum zur Entfaltung der Kreativität bieten. Der Sänger nutzt das Rappeditzle zur Satire, zum Spott und zum Witz – er kann sich einen Reim darauf machen. „Hier wohnt das Banale und das Geniale Tür an Tür und feiert manchmal sogar Hochzeit.“5
Johann Gottfried Herder, der Erfinder des Begriffs „Volkslied“, wollte zwischen eigentlichem Gesang und „Liedern des Pöbels“ unterschieden wissen. Nun gut, das haben wir getan. Dieses „Schwäbische Wirtshausliederbüchle“, das gemeinsam vom Arbeitskreis Volksmusik und dem Freilichtmuseum Neuhausen ob Eck beim Silberburg-Verlag herausgegeben ist, enthält sechsundsechzig deftige Lieder.
Dieses „Wirtshausliederbuch“ zeigt einen Querschnitt schwäbischer Wirtshauslieder, die allesamt im 20. Jahrhundert aufgezeichnet wurden. Ein Teil vor dem Zweiten Weltkrieg und ein Teil erst in jüngster Zeit. Das sagt natürlich nichts über das Alter der Lieder aus. Manche haben schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel, manche sind Persiflagen von neueren Schlagern. Einiges wurde schon publiziert, manches findet sich erstmals in gedruckter Form wieder. Viele Lieder gibt es natürlich in anderen Orten Schwabens und anderswo in weiteren Varianten. Die Melodie ist durchweg einstimmig mit Akkordbezifferung angegeben. Das Buch will keine mehrstimmigen Sätze anbieten, sondern zur freien Mehrstimmigkeit auffordern.
Die Liedersammlung ist in vier Kapitel gegliedert, die nach heutigen, nüchtern angelegten Maßstäben mit zunehmender Seitenzahl deftiger und vielleicht auch „säuischer“ im Goethe’schen Sinne werden. Wer es sanfter mag, der singe aus dem „Schwäbischen Liederbüchle“. Dort stehen ihm achtundachtzig sanftmütigere Lieder zur Verfügung. Wer’s noch braver will, der singe aus dem „Schwäbischen Kinderliederbüchle“. Sepp Bucheeger hat, wie auch bei den beiden andern Liederbüchle die Illustration besorgt. Sehr witzig hat er die Liedsituationen bildlich interprestiert.
Und jetzt: ab ins Wirtshaus, ein Fläschle Württemberger entkorken lassen und mit dem Leeren der Flasche gemütlich von vorne nach hinten singen. Einmal losgetreten, sind diese Lieder dazu angetan, die Gläser immer wieder neu zu füllen. Diese perfekte, tausendmal erprobte Symbiose ermöglicht das Zusammenrücken. Es ist die Geburtsstunde der Ausgelassenheit, der Zeitpunkt der Verbrüderung mit Nebenmann (oder der Nebenfrau), dem Wirt, dem Trollinger und mit uns selbst. Sie erleichtert den Übergang vom Abendrot ins Morgengrauen …

Wulf Wager

Auf den nachfolgenden Seiten finden Sie einige Versucherle aus dem neuen „Schwäbischen Wirtshausliederbüchle.

1. Singen im Wirthaus – Die erste Runde, Graz 2001
2. Christof Heppeler, „33,48 …“ – Kappenabend im Sommer, in: Vergesset auch das Trinken nicht …, A’ständige und u’aständige Wirtshauslieder aus Mühlheim an der Donau und anderswo, Tuttlingen 1997
3. Zitiert nach: Bausinger, Hermann, Volkskultur in der technischen Welt, Stuttgart 1961
4. Zitiert nach: Heppeler, Christof, Juchheirassa – Musik im Dorf gestern und heute, Tuttlingen 1997
5. Hermann Härtel, Das Gstanzl – die Sprache des Augenblicks, in: Vierzeiler 1/1999

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