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Vom Menuett zum Walzer

von Johannes Schmid-Kunz


Jede Kunstform erfährt während grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen immer eine Veränderung. Diese kann sich parallel oder konträr zeigen. In jedem Fall sind Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Die vorliegende Darstellung versucht in beschreibender Art und Weise solche Veränderungen, welche den Übergang vom Absolutismus zur Aufklärung prägten, in der Kunstform Tanz aufzuzeigen.
 
Menuett tanzen

Wie auch andere Kunstformen ist der Tanz oft eine gute Reflektion der Werte und Anschauungen einer Gesellschaft. Aus heutiger Sicht interessiert demnach die Entwicklungsgeschichte des Walzers dadurch, dass er als eine der ersten offensichtlichsten Darstellungsformen von Individualismus bezeichnet werden kann. In ihr spiegelt sich die Dynamik von tiefgreifenden geistigen Umbrüchen. Seine Akzeptanz und Verbreitung als Gesellschaftstanz fand der Walzer in einer Epoche des gesellschaftlichen Wandels. Was den Tanz als Medium gesellschaftlichen Wandels besonders interessant macht – im Gegensatz zum Lied beispielsweise, welches seine Botschaft beinahe plakativ im Wort transportiert – ist das hohe Maß von Gegenwartsnähe, denn er ist an den vergänglichen, menschlichen Körper gebunden.
Es ist der in dieser Zeit weit auseinanderliegenden Welt zu verdanken, dass Tanztraditionen, in welchen sich immer wieder auch Machtdemonstrationen spiegeln, nicht immer geradelinig gedeutet werden können.1 Die folgenden Bemerkungen dürfen demzufolge nicht generalisierend für die europäische Situation aufgefasst, sondern müssen immer wieder situativ definiert werden.
Außer einigen wenigen Bemerkungen bei der Entwicklungsgeschichte des Walzers wird nicht auf den Volkstanz eingegangen, da er im vorliegenden Zusammenhang eine Nebenrolle spielt. Der Volkstanz ist und war eine vitale, ursprüngliche Lebensform, eine gesellschaftliche Nebenbühne, welche in den Auseinandersetzungen von Adel und Bürgertum keine Rolle spielte und demzufolge in der Fachliteratur auch nur sehr am Rande erwähnt wird. Mit Bestimmtheit hat jedoch der Walzer im Volkstanz einen ganz wesentlichen Anteil an der Unsterblichkeit dieses Genres – und schlussendlich auch am Umstand, dass die Tradition heute im allgemeinen einen Hochzeitswalzer kennt und nicht einen Hochzeits-Tango, einen Hochzeits-Rock 'n Roll oder einen Hochzeits-Samba.
Zur unterstützenden Literatur muss bemerkt werden, dass zeitgenössische Quellen (Reiseschriftsteller, Tanzkalender, Journal des Luxus und der Moden) zum Teil widersprüchliche, dem aktuellen Geschmack des Verfassers entsprechende Äußerungen aber nie wertfreie Beschreibungen hergeben. Beispielhaft für dieses Vorgehen ist der Reiseschriftsteller Ernst Moritz Arndt, bekannt geworden durch
Le Menuet

"Le Meneut", 1887, M. Marchetti, Holzstich,
aus: Walter Salmen, Tanz im 19. Jh, Leipzig 1989

die Übersetzung des nationalen Ziels («ein Volk zu sein, ist die Religion unserer Zeit»).2 In der Sekundärliteratur beginnen die Fachbücher zum Thema «Wiener Walzer» in den meisten Fällen mit Lanner und Strauß und behandeln so unser Interessensgebiet nur sehr spärlich. In Anbetracht der Popularität dieses Themas fehlt ihnen oft die erforderliche wissenschaftliche Distanz, sie verbleiben meist auf erzählender Ebene.3 So bleibt eigentlich allein das sehr wertvolle Buch von Braun, auf welches sich die vorliegende Arbeit auch vornehmlich abstützt.
Um dem Thema gerecht zu werden, müssen zu Beginn die wichtigsten (kultur-) historischen Aspekte zusammengefasst werden; auch lohnt es sich, der Geschichte des Walzers bis hin zur Gegenwart einige Erklärungen zu widmen. Eine Zusammenführung beider einleitenden Absätze fokusiert den Blick schließlich auf die zentrale Fragestellung:
Zeigt sich eine gesellschaftliche Veränderung in der Kunstform «Tanz» am Beispiel des Walzers?
 

Wendezeit – vom Absolutismus zur Aufklärung


Seit Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt sich in Deutschland beseelt von aufklärerischen Freiheitsgedanken ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu einer Kultur-Nation zu entwickeln. Die zunächst unpolitische Deutsche Bewegung 4 mündet schließlich in die Zeit des Sturm und Drang, deren Generation allein an Genie und Originalität glaubt, setzt also in Opposition zur Aufklärung freies Gefühl gegen Vernunft. In der guten Gesellschaft herrscht jedoch nach wie vor der «bon ton» des Ancien Régime gemäß dessen Leitbildern: Hof und Adel.
So wird diese Epoche geprägt von der Konfrontation bürgerlich-aufgeklärten Bildungsgutes mit höfisch-gentiler Verhaltenskultur – die Bourgeoisie begann nach und nach die Aristokratie in der sozialen Struktur zu ersetzen. Jahrhundertelang wurde den einen beigebracht, wie man zu sitzen, stehen, gehen und knixen hatte. Die Körpersprachbarrieren sind unüberwindbar – es bleiben vorerst zwei Welten. 5 Woher sollte sich das Bürgertum die Zeit nehmen, eine eigene Bewegungstechnik zu entwickeln, war doch für die Bürger Zeit nach wie vor Geld, nachdem die Aufklärung endlich auch die Freiheit der individuellen Zeiteinteilung brachte? Natürlich beschäftigte die Suche nach einer bürgerlichen Körpersprache die damalige Gesellschaft. Die Standesdefizite wollten baldmöglichst behoben sein. 6 Der höfisch-aristokratische Verhaltenskodex mit seiner auf Schein ausgerichteten artifiziellen Körpersprache wird so schließlich mit einem neuen, bürgerlichen Verhaltenskodex und einer verinnerlichten Körpersprache des Seins konfrontiert, welcher auch Selbstsicherheit und Selbstzelebrierung erlaubt.
Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts waren Poeten, Musiker, Kritiker und Philosophen von den unerschöpflichen Quellen der Folklore fasziniert. Herder 7 war der Meinung, dass der Mensch mit seinem Gefühl denkt, dass Gefühl ein unmittelbares Erlebnis der Wirklichkeit sei. Das Erlebnis seines eigenen Körpers und das Bewusstsein seiner vitalen Kraft helfen dem Menschen, sich zu behaupten. Ein ähnliches Gefühl wusste die im Walzer innewohnende Kraft zu vermitteln.
Johann Strauss dirigiert

Johann Strauß Sohn dirigiert im Tanzsaal "Zum schwarzen Bock", 1873,
Maximilian Neubauer, aus: Walter Salmen, Tanz im 19. Jh., Leipzig 1989

Mit dem Schwund jener höfischen nach minnesängerlichen Idealen geformten Welt, musste auch der Tanz zur hohlen Schale werden, welcher die Welt des Tanzes seit dem 17. Jahrhundert beherrschte: das Menuett. Das Menuett mit seinen höchst komplizierten, detailreichen Figur- und Schrittfolgen besiegelte einst die Trennung zwischen Gesellschaftstanz und den ursprünglicheren Volkstänzen; der Tanz machte die kulturelle Kluft zwischen den sozialen Klassen unüberbrückbar. Der Tanz, den die neue bürgerliche Gesellschaft brauchte, war nicht Repräsentation, sondern Ausdruck jugendlichen Kräfteüberschusses, sowie jugendlichen Geschlechtstriebes im Rahmen gemeinschaftlichen Festvergnügens – das Bürgertum sucht seine Bindungen eher in der ländlichen als in der höfischen Kultur.
Der Walzer riss wie ein befreiendes Ereignis alles mit sich fort. Die modische Steifheit zerbrach überall und musste dem natürlicheren und lebensdurchpulsten Tanzstil Platz machen, weg von der klassischen Choreographie der S-Form, oder der historischen Z-Linie des Menuetts hin zu den direkten, geraden oder runden Formen. Das Bürgertum griff diese Tanzpraxis als Ausdruck einer gegen erstarrte Konventionen gerichtete Lebenshaltung auf. Bald wurde der Walzer zum Sinnbild einer allgemein freiereren politischen Einstellung und Lebensauffassung; so leicht machte es ihm jedoch das gesellschaftliche Umfeld nicht, wie dessen folgende Entwicklungsgeschichte zeigen wird.
 

Entwicklungsgeschichte des Walzers


Der Walzer ist mehr als nur ein Tanz oder eine Modeerscheinung. Was in früheren Jahrhunderten in verschiedensten Alpentälern als Volkstanz begann, hatte bald einmal eine starke Faszination auf die bürgerliche Jugend, ist durch verschiedene Wandlungen gegangen und hat sich bis zum heutigen Tage allen Zeiterscheinungen zum Trotz auf den verschiedensten Tanzszenen am Leben erhalten. Die Bezeichnung Walzer scheint dem Wort "walzen" (= sich drehen, schleifen) nachgebildet worden zu sein. Seine Grundform wird in verschiedenen geografischen Gegenden auch als Weller, Dreher, Schleifer, Ländler, Landler, Langaus und Deutscher bezeichnet; die Verwandtschaft dieser Bezeichnungen sind weiterhin umstritten – diesbezügliche Hinweise sind sehr selten. 8
Als ein Erbgut der alten donauländischen Bauernkultur gehören Drehtänze im 3/4-Takt allen Abschnitten der alpenländischen Tanzgeschichte an, ob es sich um Melodien des Neidhart von Reuenthals aus dem 13. Jahrhundert oder um das Lied des Wiener Sängers «Lieber Augustin» (17. Jahrhundert) handelt.
Dass nun aber die Drehtänze immer wieder zu Ermahnungen Anlass geben, beweist folgendes Mandat von 1572: «Frauen und Jungfrauen sollen sich züchtig und ehrbar am Tanz zeigen und die Mannsperson sich des Verdrehens und anderer Leichtfertigkeiten enthalten.» Dabei scheint es schon früh auch zu unzüchtigen und nicht unwillkommenen Entblößungen der Tänzerinnen gekommen zu sein. Kein Tanz hat jedoch den Ratsedikten und Kirchenpredigten so widerstanden, wie der deutsche Dreher. Die offenherzige Interpretation der Liebes–pantomime erlaubte nur der Dreher.
Johann Strauss Vater

Johann Strauß Vater, aus: Walter Salmen, Tanz im 19. Jh., Leipzig 1989

Tanzanlässe wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Polonaisen eröffnet, ihnen folgten Anglaisen, Quadrillen und zuweilen vor der Verpflegungspause ein Menuett. Das Volksempfinden löste sich jedoch von unlebendig gewordenen Figuren und Schrittfolgen und wandte sich der Kreisform zu. Die Tanzmeister mussten zur Kenntnis nehmen, dass sich gewisses Tanzgut den Weg vom Platz unter der Dorflinde in die prunkvollen Tanzsäle gebahnt hatte. Der Cotillons wurde im 18. Jahrhundert zunehmend umgebildet. Der Vierpaartanz war nun mit Walzern und anderen Drehtänzen durchsetzt. Diese Entwicklung ging jedoch nicht überall gleich schnell vor sich. 9
1787 wird heute im allgemeinen als das Jahr der endgültigen Emanzipation des Walzers genannt. In der Oper «Una cosa rara» von Vincenz Martin tanzten im rauschendem Finale vier Personen einen Walzer – dieser war nun also bühnenreif. 10 Die verschiedenen Stadien der Walzerentwicklung sind szenisch im Finale des ersten Aktes von Mozarts «Don Giovanni» zusammengefasst. 11
Die Liste der Walzer-Ablehner ist sehr lang. Der Walzer wurde herzlich und rasch im deutschen Bürgertum aufgenommen, aber langsam in der außerdeutschen Bourgeoisie; dagegen stand die unerschütterliche Zurückhaltung der Höfe, die wenig Interesse daran zeigten, Prinzessinen mit Offizieren im Liebestaumel davontanzen zu sehen. Frankreich, das auf die kulturelle Bevormundung Europas während 200 Jahre stolz war, widersetzte sich dem Walzer heftig. Um 1790 galt der Wiener Walzer im revolutionären Frankreich als Ausdruck bürgerlichen Freiheitswillens. Nach der Französischen Revolution begann sich der Walzer in Frankreich auszubreiten. Die napoleonischen Kriege brachten ihn nach Paris und bald ging das geflügelte Wort um, die Deutschen hätten im Frieden von Lunéville nebst vielen Gebieten auch ihren Nationaltanz an die Franzosen abgetreten. Auch England wurde trotz Kontinentalsperre vom Walzerfieber erfasst, endgültige Akzeptanz fand er jedoch erst um 1812.
Bald zeigte sich, dass Österreich eine spezielle Beziehung zum Walzer hatte. Vor allem die österreichische Aristokratie war schon zu Beginn begeistert vom Walzer.12 Ihre Liebe für den Walzer war nicht ohne politischen Hintergrund. Die Habsburger hatten sich immer dem französischen Hof gegenüber kultureller Hinsicht unterlegen gefühlt und unterwarfen sich der französischen Sprache, Etikette und dem Lebensstil nur mit Zögern und Verdruss. Der Walzer war eine kulturelle Trumpfkarte in ihren Händen. Der Höhepunkt kam im Jahre 1814 – wohl in Rücksicht auf die fremden Fürsten und Diplomaten wurden die Sitten während des Wiener Kongress' gelockert – als alle diplomatischen Würdenträger Walzer tanzten.13 Dies war zugleich ein Symbol für Metternichs Triumph am Verhandlungstisch. Die völkerübergreifende Expansion sowie die Standeserhöhung des Walzers während der napoleonischen Ära, hat mit dem tanzenden Wiener Kongress also einen vorläufigen Höhepunkt erlebt.
In Wien wurde der Walzer hoffähig, nicht so jedoch in Berlin, wo er bis zum Ende des Kaiserreichs (1918!) vom Hof verbannt blieb. Lediglich während sich das Kaiserpaar beim Souper befand, durften einige Melodien im Dreivierteltakt ertönen.
Im Wien des 19. Jahrhunderts erhielt der Walzer dann als «Wiener Walzer» seine klassische Ausprägung, die ihn weltweit bekannt machte.14 Mit Josef Lanner und der Familie Strauß erreichte der Wiener Walzer seine klassische Periode. Vor allem Johann Strauß Sohn gelang eine Formerweiterung und Veredelung des Tanzwalzers.
Tanzkarte aus Stockach, Umschlag, 1919

Außenseite einer Tanzkarte aus Stockach. Fastnachts-Tanzkräzchen im Gasthaus zur "Stadt Wien", 1919

Der Wiener Walzer beeinflusste nachhaltig den «Boston» um 1900 in den USA und den langsamen «English Waltz» um 1920 in Großbritannien. Erst in den 20er Jahren wird der Walzer im Gesellschaftstanz allgemein anerkannt – die Form des gemäßigten, sanft dahinschwebenden Wiener Walzers erschien nun als perfektes Produkt eines Domestizierungsprozesses. Seit 1929 sind der Wiener Walzer und der English Waltz Turniertänze und seit 1963 im Welttanzprogramm. Zudem kommt dem Walzer nach wie vor weltweit eine zentrale Bedeutung in der Volkstanzszene vieler Länder zu.
 

Der Kampf des Walzers um die Macht


Stellt man sich die historisch-gesellschaftlichen sowie die tanzhistorischen Aspekte gegenüber, ist die Konfrontation unausweichlich. Der Kampf um die Vorherrschaft wurde wie auf der politischen Bühne auch im Ballsaal mit allen Mitteln geführt. In den letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts häuften sich die Schriften, welche sich mit den moralischen und gesundheitlichen Schäden der neuen Tanzmode befassen. Dabei wurde nicht gezögert, das Argumentarium bis zur letzten Konsequenz auszureizen und den walzertanzenden Mädchen die Schwindsucht, die Auszehrung oder sogar einen schnellen Tod vorauszusagen. Natürlich blieben die medizinisch argumentierenden Warnschriften nicht unbeantwortet.15 Der Walzer galt nicht allein als Gefahr für den Verlust der Vernunft,16 sondern ganz allgemein als Anreiz zur sündigen Leidenschaft. Der Walzer brachte nicht nur in der Tanzmode, sondern auch in den sittlichen Anschauungen einen tiefgehenden allgemeinen Umschwung mit sich. Er erforderte eine enge Tanzhaltung, welche bereits auf dem Lande eine Welle der Empörung bei den geistlichen und weltlichen Behörden ausgelöst hatte; nun hatten auch die städtischen vom unsittlichen Walzen Ergriffenen die drohenden Ermahnungen zu erdulden. Erstmals in der Geschichte des europäischen Gesellschaftstanzes standen sich Mann und Frau eng gegenüber und umfassten einander – eine sexuelle Revolution im Tanz! In der Rezeption dieser Entwicklung gingen wohl die Wünsche der selbsternannten Sittenwächter und der Direktbeteiligten weit auseinander.17 Das Journal des Luxus und der Moden nimmt nicht eindeutig Stellung zu dieser Entwicklung: «Und haben Sie gesehen bemerkt, wie manches Paar mit abgewandten Köpfen, Er zur Rechten, Sie zur Linken sehend, wie ein treues Ehepaar nach den Flitterwochen? Dafür ist das folgende Pärchen oft desto magnetischer verschlungen und im Überströmen der Zärtlichkeit wie aus einem Stück gegossen.» 18 Dass aber bis zum Erlangen eines ansehnlichen Tanzstils das bürgerliche Tanzpublikum noch einen beschwerlichen Weg vorhaben würde, macht das Weimarer Meinungsblatt oft deutlich: «Das Drehen ist so allgemein, wie eine ansteckende Schnupfeninfluenca, aber so schwer, als wenige glauben. Manches Paar schleppt sich unbehülflich oder mit verwechselten Füssen und peinlicher Mühe in dem vollen Kreise herum.»19
Eine spezielle Rolle war bei diesen grundsätzlichen Veränderungen den Tanzmeistern zugedacht. Die Hüter der alten Konventionen wollten nicht dulden, dass im Tanz Charakter, Seele und Leidenschaft zum Ausdruck kamen. Sie hatten das Erbe einer auch im Tanze mühsam anerzogenen Naturverleugnung zu verwalten und gerieten in Verwirrung, als sie bemerkten, wie diese Formen gesprengt wurden. Jahrhundertelang waren sie Mittler höfischer Verhaltenskultur gewesen. Sie hatten den gu-ten Ton und die Anstandslehre einschließlich der Vermittlung der neusten Gesellschaftstänze gepachtet und drohten nun plötzlich arbeitslos zu werden. Ihr Verhalten war vor zwei Jahrhunderten genau gleich wie heute in ähnlichen Situationen: erst die Verweigerung und schließich die erzwungene Anpassung. Fortschrittliche Tanzmeister machten einen Schritt auf die neue Zeit zu und erhoben warnend den Finger gegen die beengende Schnürung in den Damenmoden; zu einer Absage an die einseitigen Tanzformen, an die bisherige Herrschaft des alten, steifen Tanzstils jedoch, konnten sie sich erst nicht durchringen. Nicht nur die führenden, die französischen Tanzmeister, nein auch die alten deutschen Tanzmeister waren meist Gegner des Walzers.20 Die Einführung des choreografierten Walzers wie z.B. der Wechselwalzer, bei dem ein Herr und zwei Damen (schon das ist unverfänglicher) auf dem Parkett zu erscheinen hatten und es zu ständigen Paarwechseln kam, scheint ein letztes Rückzugsgefecht der Tanzmeister zu sein. Die Entwicklung jedoch nahm ihren Verlauf.
Zum Wesen des Menuetts gehörte eine strenge Formation von Tänzern, die gemessenen Schrittes auf exakten geometrischen Linien tanzten. Zur Klärung unserer Fragestellung muss jedoch auch das Publikum, auf das der Tanz ausgerichtet ist, genauer angeschaut werden. Es
Tanzkarte aus Stockach, Innenseite, 1919

Innenseite einer Tanzkarte aus Stockach. Fastnachts-Tanzkräzchen im Gasthaus zur "Stadt Wien", 1919

war von größter Bedeutung, wer in welcher Reihenfolge zum Tanz einzog. Der soziale Rang bestimmt die Aufstellung des Tanzes, die Ständegesellschaft findet im Tanz ihr Spiegelbild. Das von Tradition und Konvention dominierte Menuett musste dem gesellschaftlichen Druck, dem von Spontaneität und dem Ausdruck der inneren Freiheit geprägten Walzer weichen.21 Die stilisierte Liebeswerbung, die Verziertheit und Verspieltheit des Menuetts wurde vom selbstbewussten und robusten Walzer herausgefordert.22 Die Tänzer legen beim Eintritt in eine tanzende Menge ihre soziale Rolle ab, es zählt nur die individuelle Leistung und Begeisterung im Tanz und nicht der Status in der Gesellschaft außerhalb des Ballsaals. Der Walzer ist kein Abbild einer existierenden sozialen Ordnung mehr, enthält keine narrative Momente mehr, er ist als Tanz absolut wie die Kreisform an sich.
Das Klischee «Zurück zur Natur», wird dem französischen Kulturphilosophen Rousseau zugeschrieben und Natur ist auch das Stichwort, welches zum Walzer führt. Rousseaus Konzepte griffen den Feudalismus an, der Walzer wandte sich gegen das Menuett als sein gesellschaftliches Symbol. Ein intellektuell-emotioneller Vorstoß fand seine Entsprechung auf einem emotionell-physischen Niveau. Sie standen zwar nicht in direkter Beziehung und doch waren sie vom gleichen Antagonismus gegen die vorherrschenden Zustände motiviert, beide erfüllt von naturgebundenen Gefühlen. Walzer zu tanzen war eine Einladung, mit der Routine der Vergangenheit zu brechen, mit dem Protokoll der Formalität, mit einer Etikette, die oft an übertriebene Spitzfindigkeit grenzte. So kam es, dass viele junge Intellektuelle zu «verzweifelten» Walzertänzer wurden, allein um ihren rebellischen Geist demonstrieren zu können. Worin äu-ßerte sich aber das Revolutionäre des Walzers? In der Dynamik, welche alle Tänzer ohne Unterschied nach Rang und Stand mit sich fortriss. Die zunehmende Dominanz des Walzers als Modetanz demonstrierte die bröckelnde Machtposition traditioneller Herrschaftsschichten. Im Tanz kündigte sich für das Bürgertum eine gesellschaftliche Entwicklung an, die politisch noch erkämpft werden musste. Der Walzer wurde zum Inbegriff der Revolution und das Symbol des bürgerlichen Prinzips der «égalité».
 

Schlussbemerkungen


In den vorangegangenen Abschnitten hat sich mehrfach gezeigt, dass sich die gesellschaftlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr deutlich im Walzer zeigen. Dies nicht nur in seiner Entstehungs-, sondern auch in seiner Rezeptionsgeschichte sowie in der Auseinandersetzung mit seiner tanzhistorischen Vorgängerin, dem Menuett.
Im Laufe der vorliegenden Darstellung hat sich jedoch ein zweiter Fragekomplex geöffnet: Die Frage nach der gegenseitigen Einflussnahme: es hat sich nämlich gezeigt, dass die Veränderung der Tanzszene sicher keine Reaktion auf einen abgeschlossenen gesellschaftlichen Reformprozess war, sondern selber wiederholt weitere Reformschritte ankündigte. Es war keine Tagesmode, die der letzten Generation des 18. Jahrhunderts den «Volkstanz» zugeführt hatte. Es war eine erste Möglichkeit, sich aller entseelten Formen zu entledigen und gleichzeitig eine höhere gesellschaftliche Emanzipationsstufe zu erreichen: nicht künstliche Bewegungskultur, sondern lustvoll gesteigerte Bewegung, nicht stilisierter Schein, sondern lebendiges Sein.
Dem Walzer wohnte eine überzeugende Absolutheit bei, die ihn befähigte, alle sozialen Schichten gleichermaßen zu erfassen. Somit unterstützte das Walzertanzen nach seinen Möglichkeiten auch die weitere gesellschaftliche Entwicklung.
Die Ideale der Französischen Revolution begünstigten die Verbreitung des Walzers – gleichzeitig stärkte die Walzerszene in ihrer Opposition zu überlebten Standesregeln den Willen der Bourgeoisie, gesellschaftliche Führungspositionen und damit Verantwortung zu übernehmen und die Errungenschaften der Revolution auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu verwirklichen. Zudem bot der Walzer in seiner stürmische Aufgabe aller Konventionen, dem Eintauchen in eine wogende Masse die Möglichkeit, den neuen Individualismus aktiv zu leben.
Diese errungene individuelle Freiheit zeigt sich in der doppelten Spiralbewegung, der Drehung um die eigene Achse bei gleichzeitiger Beschreibung eines großen Kreises, was den kosmischen Bahnen der Planeten gleicht: im Tanz wird der Mensch ein bewegter Teil des Universums.
 

Anmerkungen:


1 Nach seinem Amtseid als erster amerikanischer Präsident soll Georg Washington 1789 auf einer kleinen Tanzveranstaltung ein Menuett getanzt haben. Dies dürfte im damaligen Europa als reichlich konservatives Element gedeutet worden sein. Das unabhängige Amerika tanzt nicht etwa den in Europa zum Haupttanz der bürgerlichen Emanzipation avancierten Walzer, sondern – im Jahre der Französischen Revolution - den Lieblingstanz von Louis XIV.
2Arndt berichtet 1798 von einem Tanzfest auf dem Lande: «Die Tänzer fasten das lange Kleid der Tänzerinnen, damit es nicht schleppte und zertreten ward, weit hinauf, klemmten sie in dieser Verhüllung, die beyde Körper unter eine Decke brachte, so dicht als möglich gegen sich, und so ging das Gedrehe in den unanständigsten Stellungen fort; die haltende Hand lag hart auf den Brüsten und macht mit jeder Bewegung kleine lüsterne Eindrücke; Bey Umwälzungen an der abgewandten Lichtseite gab es dabey keckere Eingriffe und Küsse; die Mädchen waren dabey wie Tolle und Hinsinkende anzusehen.»
3Mit Popularität ist die permanente Spitzenposition des Wiener Walzers bei Hörpräferenz-Umfragen im Radio, die beeindruckenden Einschaltquaoten bei Sissifilmen sowie TV-Übertragungen von Wiener Opernball und Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker gemeint.
4Lessing bekämpft die französische Überfremdung der Literatur, Klopstock preist die Liebe zum Vaterland.
5Diese sich überdauernde Gesellschaftsstruktur bildet die Kernproblematik in Goethes «Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre».
6Dieser Vorgang war Teil der Selbstfindung und der Selbstdarstellung. In diesem Zusammenhang sind auch die physiognomische Studien bildender Künstler zu erwähnen, welche Besucherströme nach Zürich zu Lavater führen. Mimik und Gestik verselbständigen sich – weg vom Affektierten hin zum Natürlichen.
7Johann Gottfried von Herder (1744-1803) begann mit seiner Volkslieder-Sammlung und befruchtete damit sowohl Klassik wie auch Romantik.
8Grillparzer schreibt 1848 in seiner Erzählung «Der arme Spielmann»: «…ich will kein Bettler sein, verehrter Herr. Ich weiß wohl, dass die übrigen öffentlichen Musikleute sich damit begnügen, einige auswendig gelernte Gassenhauer, Deutschwalzer, ja wohl gar Melodien von unartigen Liedern fort und fort herabzuspielen.»
9Während man in Bayern nach wie vor Verboten des Schleifers und Walzers begegnete, musste Goethe in Strassburg bereits Walzer tanzen lernen, um zur Gesellschaft zu gehören.
10 Im gleich Jahr tanzte man in Prag auch zu Melodien aus Figaros Hochzeit.
11Don Giovanni hat, um Zerline zu verführen, eine ganze Hochzeitsgesellschaft in seinen Palazzo geladen. Zwischen Dienerschaft und Prunk stehen die Bauern umher. Musikanten kommen. Plötzlich treten drei offensichtlich zum Adel gehörende Maskierte in den Raum. Der Tanz hebt an. Es entsteht ein Kampf der vier von Mozart eingesetzten Orchestern – ein Kampf der Wesensarten, der Lebensarten und natürlich der Tanzformen. Die drei Maskierten bleiben beim starren Menuett, die Bauern versuchen zuerst eine Nachahmung und kommen dann zum derben Ländler. Der Bauerntanz ist in städtischen Gebieten also auch in den Salon vorgedrungen. Der Langaus ist vergessen, der Ländler veraltet, der Deutsche eben noch getanzt und der Walzer neu.
12Bei der Vermählung des Kaiserpaares (1808) war das Walzertanzen am Hofball noch nicht gestattet. Nach dem Essen entfernte sich der Hof, worauf sofort mit dem Walzer begonnen wurde.
13Kaiser Alexander soll damals vierzig Nächte durchgetanzt haben; unter diesen Umständen ist auch das geflügelte Wort des Fürsten von Ligne zu verstehen: «Der Kongress tanzt!».
14Carl Maria von Webers «Aufforderung zum Tanz» gilt als Markstein in der Entwicklung des Walzers oder als Geburtsstunde des WienerWalzers, wenn auch schon lange vor ihm Haydn, Mozart, Schubert und Beethoven Walzer komponierten, oder eben Deutsche Tänze.
15Gewissermassen auf Salomon Jakob Wolfs Schrift «Beweis, dass das Walzen Hauptquelle der Schwäche des Körpers und des Geistes unserer Generation sey. Deutschlands Söhnen und Töchter angelegentlichst empfohlen.» (1799) antwortet Thomas Wilson in «A description of the Correct Method of Waltzing» (London 1816), der Walzer sei «generally admitted to be a promoter of vigorous health and productive of a hilarity of spirits.»
16«Wenn das Blut in Wallung kommt, so ist die Vernunft nicht mehr Meister der Sinnlichkeit; verschiedene Arten von Temperamentsfehlern werden dann offenbar. Man sei also auf der Hut! Der Tanz versetzt uns in eine Art von Rausch, in welchem die Gemüter die Verstellung vergessen – wohl dem, der nichts zu verbergen hat.» Knigge, zit. nach Braun, S.217.
17Die folgenden zwei Textstellen mögen diese unterschiedliche Betrachtungsweise verdeutlichen:
«Unsere Herrchen wollen schon nichts anderes mehr tanzen (als Walzer), und dazu mögen sie wohl ihre guten Gründe haben. Dass die Frauenzimmer sich in diesem Stück so gefällig bezeigen, mag schon manche bereut haben», Anony-mus 1805, zit. nach Braun, S.216.
«I could not help reflecting how uneasy an English mother would be to see her daughter so familiarly treated, and still more witness the obliging manner in which the freedom is returned by the female», Cyclopaedia, or Universal Dictionary of Art, Sciences and Literature (London 1802-1818), zit. nach Braun, S. 207.
18Journal des Luxus und der Moden, März 1797; 115 ff.
19 dito
20 Die französischen Tanzmeister – Europas Vortänzer über Jahrhunderte – reklamierten sogar das Erstgeburtsrecht für den Walzer für sich. Sie etablierten eine französische Walzerform, welche aus drei verschiedenen Tänzen bestand und selbstverständlich viel komplizierter war als der Wiener Walzer.
21«Jeder Tanz muss einen Charakter haben, unsere Tourentänze sind ohne Charakter und Ausdruck, das widernatürlichste lächerlichste Fußspiel. Die bloße Veränderung der Touren, die Abwechslung dieser toten geometrisachen Figuren ist nichts, als das Mechanische derselben. Der wahre Tanz soll Seele haben, Leidenschaft ausdrücken, die Natur kopieren.», Tanzkalender 1801.
22Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) führte in der «Wissenschaftslehre» (1794) alles Sein auf eine ewige geistige Kraft, das «Ich» zurück. Dieses «Ich» zeigt sich wiederum im überbetonten Eins und im unterbetonten Zwei des Walzers.

 
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