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Alexandra Kaiser

Gemeinschaft, Zusammenhalt und "Rosamunde";

In Rottenburg am Neckar organisieren sich Gleichaltrige in Jahrgangsgemeinschaften


Leicht verliert man sie nach der gemeinsamen Schulzeit aus den Augen, die Gleichaltrigen, mit denen man aufgewachsen ist, von den alle paar Jahre stattfindenden Klassentreffen einmal abgesehen. Als stetere Alternative zu diesen spärlichen Wiedersehen haben sich mancherorts als lokale Besonderheit die sogenannten "Jahrgänge" etabliert, schulübergreifende Zusammenschlüsse von Gleichaltrigen, die sich zu gemeinsamen Unternehmungen treffen und anlässlich ihrer runden Geburtstage gar mehrtägige Festakte organisieren - so auch im schwäbischen Rottenburg am Neckar.
 
"So jong komme mr nemme zemma", sagen sich die Jahrgänger mit 20, 30, 40, 50 und schließlich mit 80 Jahren und inszenieren zu jeder "Zehner-Feier" einen dreitägigen Festakt, Gottesdienst und Tanzabend inklusive. Nach Ansicht der Jahrgänger sind es diese runden Geburtstage, die den Jahrgang zusammenhalten. Auch Gleichaltrige, die im Ausland leben, statten der alten Heimat zu diesen Gelegenheiten einen Besuch ab. Rottenburg spielt dabei als allen gemeinsamer Bezugspunkt eine wichtige Rolle. Das veranschaulichen die mit Fotografien und Zeichnungen Rottenburgs illustrierten Festschriften, die vom Jahrgang zu den Zehner-Feiern herausgegeben werden. Die Hefte enthalten sämtliche Adressen, die Namen bereits verstorbener Jahrgänger, Heimat- und Mundartgedichte sowie Ansprachen an die "Jahrgangsgeschwister".
 
Mit dem zwanzigsten Geburtsjahr wird in Rottenburg der Jahrgang gegründet - mit offizieller Gründungsversammlung, Wahl eines Vorstandes und eines Ausschussgremiums. Die Jahrgänge sind keine eingetragenen Vereine, auch wenn sie ähnlich aufgebaut sind. Neben den Zehner-Feiern treffen sich die Jahrgänger auch während des Jahres. Die gemeinsamen Unternehmungen differieren dabei von Jahrgang zu Jahrgang und werden mit zunehmendem Alter meist regelmäßiger angeboten. Gemeinsames Vierteles-Schlotzen am Stammtisch, Wanderungen ins Nachbardorf oder auch schon mal ein gemeinsamer Urlaub auf Mallorca sollen dafür sorgen, dass die Verbindung der Jahrgänger auch zwischen den runden Geburtstagen nicht abreißt.
 
Ein Jahrgang setzt sich nicht nur aus gebürtigen Rottenburgern zusammen, die Jahrgangsgeschwister bemühen sich im Gegenteil durch aktive Mitgliederwerbung bei zugezogenen Gleichaltrigen um Zuwachs von außerhalb. Allein der Datenschutz erschwert diese Bemühungen. Nach dem Selbstverständnis der Jahrgänger spielen geographische wie soziale Herkunft, Schulbildung, Beruf oder gesellschaftliche Position für die Aufnahme in einen Jahrgang keine Rolle. Jeder gehe jedem mit Achtung entgegen, befinden die Jahrgänger, die sich gegenseitig "Jahrgangsgeschwister" nennen. Das Duzen ist obligatorisch: Im Jahrgang sagt auch der Straßenfeger zum Professor "Du".
 
In der Realität sieht die propagierte soziale Gleichheit allerdings etwas anders aus. Bis in die Nachkriegszeit war es üblich, dass Angehörige ihren Jahrgängern an der Zehner-Feier Geschenke brachten. Die Präsentkörbe wurden für jeden sichtbar auf den Tischen im Gasthaus aufgebaut. Alle Verwandten schafften für dieses Ereignis natürlich herbei, was sie auftreiben konnten, sei es ein schönes Stück Schinken, ein paar Flaschen Wein, Stoffe oder Küchengeräte. Bei dieser Gelegenheit fand ein gegenseitiges Vergleichen und Abschätzen der Geschenke statt, die Gaben dienten zur Repräsentation der eigenen finanziellen und damit auch gesellschaftlichen Stellung. Der Brauch der Geschenkkörbe ist inzwischen längst abgeschafft, soziale Grenzen gibt es im Jahrgang immer noch. So wird das Amt des Vorstandes meist von "honorigen" oder doch zumindest studierten Jahrgängern bekleidet, obschon Akademiker die Jahrgangstreffen selten besuchen.
 
Frauen findet man auf dem Vorstandsposten nur selten. Bei den Jahrgangstreffen selbst überwiegt der Frauenanteil allerdings deutlich. Bei den älteren Jahrgängen spielen dabei die im Durchschnitt höhere Lebenserwartung der Frauen und die Verluste durch den Krieg eine Rolle. Männer scheinen außerdem dazu zu neigen, sich selbst im Vergleich zu ihren Altersgenossen jünger einzuschätzen, als sie tatsächlich sind. Äußerungen wie "Was will ich denn im Jahrgang, da sitzen ja sowieso nur alte Weiber drin" belegen diese Einstellung.
Vor allem für die älteren Frauen war der Jahrgang im dörflichen Umfeld die einzige Möglichkeit, das Haus ohne Ehemann und Kinder im Schlepptau zu verlassen. Die Jahrgänge erfüllten und erfüllen damit eine wichtige soziale Funktion. Für die jüngeren Generationen ist die Jahrgangsgemeinschaft indes weit weniger wichtig. Durch die gestiegene Mobilität wurde die Bindung an den Heimatort geschwächt. Auch das im Vergleich zu früher größere Freizeitangebot schmälert die Bedeutung des Jahrgangs.
 
"In einen Jahrgang tritt man nicht ein, da wird man hineingeboren", sagt ein älterer Jahrgänger. Die vertraute Gruppe der Gleichaltrigen bietet vor allem Älteren verläßlichen Halt. "Fliegeralarm bei Tag und Nacht, i ka’s net vergessa, send mir oft schtondalang em Kär nebam Mostfass danagsessa", erzählt ein Mundartgedicht in einer Jahrgangsfestschrift. Vor allem die gemeinsamen Kriegserfahrungen prägen bei den älteren Jahrgängern das Gemeinschaftsgefühl, den jüngeren Generationen scheint ein derart tiefgreifendes Ereignis zur kollektiven Identifikation zu fehlen.
 
Wenn sich der sechzigjährige Vorsitzende bei seinen Altersgenossen entschuldigen läßt, weil der Kegelclub ruft, zeigt sich aber auf der anderen Seite, dass auch ältere Semester dem Jahrgang nicht mehr dieselbe herausragende Bedeutung beimessen wie früher. Auch im Rentenalter gewinnt der Jahrgang durch das größere Maß an Freizeit nicht erneut an Bedeutung.
 
Doch egal, was man von den Altersgefährten halten mag, Jahrgänge sind Schicksalsgemeinschaften. Genauso wenig wie man eintreten kann, kann man auch austreten. Und so werden wohl auch in Zukunft in der Rottenburger "Eintracht" Gläser und Stimmen klingen, wenn sich die Jahrgänger treffen. Erst zaghaft, dann lauter und schließlich voller Inbrunst stimmen alle in "Rosamunde" ein.
 
Alexandra Kaiser

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