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Anette Garbrecht

Alle meine Entchen ...

Für das Lied fehlt der soziale Ort

Das Lied vom "Ritter Rost" gefällt dem achtjährigen Till am besten. Das kann er auswendig. Jedenfalls den Text. Die Melodie schleift er nur ein bisschen rauf und runter, kein Ton sitzt richtig. Falls er überhaupt singt. Singen außerhalb der Schule ist nämlich uncool. Wenn seine Mutter beim Kartoffelschälen vor sich hin summt und in die höheren Lagen kommt, äfft er sie nach: "Tatata!" Der sangesunlustige Zweitklässler ist keine Ausnahme. Viele Eltern wissen davon ein Lied zu singen: Über Happy Birthday kommen die meisten Kinder nicht hinaus. Gerne genommen wird dabei die Variante: Happy Birthday to you, Marmelade im Schuh, Aprikose in der Hose und ein Arschtritt dazu."


Singen im Zeitalter des akustischen Cyberspace scheint nicht mehr trendy zu sein. Und das fällt nicht nur Eltern auf. Von einem schleichenden Verlust der Singfähigkeit sprechen inzwischen Musikpädagogen und -psychologen. "Die Kinder singen nicht mehr so gerne, weil ihnen das Vorbild der Erwachsenen fehlt", sagt die Geigenlehrerin Birgit Maschke. Der Chef der Bayerischen Singakademie, Kurt Suttner, schätzt, dass heute von 30 Kindern nur noch drei eine einfache Melodie nachsingen können. Vor 30 Jahren sei das Verhältnis genau umgekehrt gewesen.
 
Singen, sagt Menuhin, befreit uns aus der Erstarrung
 
Dieser Befund aus langjähriger Beobachtung, wird er denn wissenschaftlich erhärtet, könnte fatal sein. Er würde mehr signalisieren als das beiläufige Ablegen einer Kulturtechnik. Denn Singen, so sagt der kürzlich verstorbene Geiger und Dirigent Yehudi Menuhin, "kann unsere Körper aus jeglicher Erstarrung befreien, aus dem Gesang wächst ein Verstehen, Teilhaben und Begreifen über alle Begriffe hinaus."
Was der Künstler in hochgestimmtem Ton formuliert, haben empirische Untersuchungen inzwischen ganz ohne Tremolo bestätigt: Singen ist heilsam und stärkt die Seele. Es tut den Bronchien und der Lunge gut, und es dient der Abfuhr seelischer Spannungen: Ärger und Stress, Angst und Trauer oder das Gefühl der Einsamkeit können sich artikulieren, gute Laune und Glücksgefühle lassen sich im "Badewannentango" unbeschwert hinausschmettern.
"Beim Singen erlebe ich, wie ich gestimmt bin", sagt der Musikpsychologe Karl Adamek. In seiner Untersuchung an Studenten der Universität Münster hat er herausgefunden, dass "Singer" im Vergleich zu "Nichtsingern" lebenszufriedener, ausgeglichener und selbstbewusster sind. Sie hätten häufiger gute Laune und verhielten sich sozial verantwortlicher. Schon zwanzigminütiges Singen täglich führe zu einer deutlich höheren physischen und psychischen Belastbarkeit, behauptet Adamek.
 
Solche Rezepte sind wohlfeil, gehen sie doch an der sozialen Realität ziemlich vorbei. Zwar erheben rund eine Million Menschen in Deutschland ihre Stimme in Chören und Gesangvereinen, aber im Alltag, bei Familienfesten, auf der Straße oder im Büro, gilt das Singen eher als peinlich. Das spüren Kinder - und übernehmen diese Wertung. Früher gehörte das Lied zu allen Lebensbereichen. Gesungen wurde von der Wiege bis zur Bahre, bei der Totenklage. Die Menschen sangen bei schwerer körperlicher Arbeit, beim Dreschen oder Hochhieven eines Ankers. In der Nazizeit allerdings wurde das Singen politisch instrumentalisiert, um Ideologie zu vermitteln und ein obskures Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Daher galt dann in den sechziger Jahren das Singen als irgendwie verdächtig. "Seid wachsam, singt nicht!" warnte damals Hans Magnus Enzensberger. In den Siebzigern verschwand das Singen schließlich fast ganz aus dem Musikunterricht der Schulen. Statt dessen mussten die Schüler Lieder kritisch analysieren.
Musikunterricht in der ersten Klasse einer Hamburger Grundschule heute: Fast eine dreiviertel Stunde singen die Kinder begeistert "Die alte Moorhexe", "Der Saurier heißt Theobald", "Itzebitzebellonicus" - Lieder, von denen die Musiklehrerin Nicola Rönneburg aus langjähriger Erfahrung weiß, dass sie den Kindern gefallen. "Die Lieder, die die Kinder jetzt lernen, tragen sie weiter durch ihr Leben", sagt sie. Ins Gepäck gehören ihrer Meinung nach auch mindestens zehn alte deutsche Volkslieder, angefangen bei "Der Mond ist aufgegangen". Aus dem Elternhaus, sagt die Lehrerin, brächten die Kinder nur noch wenige Lieder mit. Waren es vor zehn Jahren rund zehn, reduziere sich das jetzt auf höchstens vier Lieder - "Alle meine Entchen" inbegriffen.
Die Schüler dieser Schule haben Glück: Sie haben eine richtige Musiklehrerin, die zweimal in der Woche mit ihnen singt und von der zweiten Klasse an sogar Opern spielt, damit die Kinder sich an Gesang gewöhnen. An den meisten Schulen sieht das anders aus: Achtzig Prozent des Musikunterrichts, hat der Verband deutscher Schulmusiker ermittelt, werden bundesweit von fachfremden Lehrern erteilt - und die behelfen sich dann oft mit Liedern aus dem Kassettenrekorder. Die geforderten zwei Wochenstunden werden in keinem Bundesland tatsächlich unterrichtet, vielmehr fällt der Unterricht oft genug ganz aus.
 
Musik, beweisen Studien, fördert die Entwicklung
 
Kein Fach stehe heute so unter Rechtfertigungsdruck wie Musik, klagen Musikpädagogen. Um hier bildungspolitisch besser argumentieren zu können, hat Hans Günther Bastian, Professor für Musikpädagogik untersucht, wie sich das Singen und Musizieren auf die Entwicklung von Kindern auswirkt. Sechs Jahre lang hat er 180 Schüler an so genannten musikbetonten und normalen Berliner Grundschulen beobachtet. Die Sechs- bis Zwölfjährigen an den Modellschulen haben zweimal in der Woche Musikunterricht, lernen von der zweiten Klasse an obligatorisches Blockflöten und in der vierten Klasse dann ein weiteres Instrument; Ensemblespielen ist Pflicht. Bastians Ergebnis: Bei den musikalisch geförderten Schülern entwickelten sich Intelligenz, Selbstwertgefühl und Realitätssinn besser als bei anderen, die einzelnen Kinder waren besser in ihre Gruppe integriert und verhielten sich untereinander solidarischer. "Wer musiziert, nimmt keine Knarre in die Hand", sagt der Komponist Hans Werner Henze.
Solch pointierte Sätze sind gewiss mit Vorsicht zu genießen. Das Lied auf den Lippen oder die Geige in der Hand garantiert noch keine Friedfertigkeit. Manch einer aus der Generation der heute Fünfzigjährigen hat als Kind mit der Faust in der Tasche sein Weihnachtslied unter dem Tannenbaum abgeliefert oder ist mit zusammengebissenen Zähnen der Aufforderung "Spiel mal vor!" gefolgt. "Liebe und Singen lässt sich nicht zwingen", weiß schließlich schon der Volksmund.
Lässt sich das Singen außerhalb der Babyzimmer, Kindergärten und Schulen überhaupt wieder ein wenig aus der schambesetzten Ecke herausholen? Eine noch von Menuhin auf den Weg gebrachte Hamburger Initiative "Canto del Mondo" jedenfalls hat in dieser Hinsicht Großes vor: Eine "Wiederbelebung des Alltagssingens in jeglichen Formen, vom Wehensingen bis hin zur Sterbebegleitung" hat sich diese Bewegung zum Ziel gesetzt. Die Mitglieder der Initiative, die demnächst zur Stiftung umgewandelt wird, kommen aus den unterschiedlichsten Wissenschaften. Ihr erstes geplantes Projekt: ein so genanntes Canto-Cafe`. Das als Lehmbau konzipierte Haus soll Jugendliche und alte Leute, Schwangere und Menschen mit Kindern anlocken - und zum Singen verlocken, mit oder ohne so genannte Canto-Gruppenleiter. Singen als Selbstzweck, ohne konzertante Vorführung - so lautet die Devise für die bundesweit geplanten Canto-Gruppen.
Ob sich darüber etwas wiederbeleben lässt, was so recht keinen sozialen Ort mehr hat? Denn wo keine Trauerrituale, da keine Trauergesänge. Kurt Adamek, Mitbegründer von "Canto del Mondo", ist dennoch optimistisch: "Man muss nur irgendwo anfangen. Dann werden wir auch etwas bewirken." Vielleicht beim Kartoffelschälen? Der achtjährige Till wird das Singen seiner Mutter halt ertragen müssen. Sein Mitschüler Bela sagt warum: "Singen gibt der Seele Kraft", weiß der Erstklässler.Aus:
 
Stuttgarter Zeitung vom 18.12.1999

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