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Dagmar Weinberg
Eine Lederhose rettet nicht das Abendland
Gedenken gehört für Volkskunde-Professor Hermann Bausinger
zur Tradition einer Stadt
Die "Heimatpflege" ist ein Punkt seines
Konzepts, das Esslingens Kulturreferent Peter Kastner demnächst
im Kulturausschuss diskutieren lassen möchte. In einem Interview
mit EZ-Redakteurin Dagmar Weinberg verrät der Tübinger
Volkskunde-Professor Hermann Bausinger, was Heimat für einen
Kulturwissenschaftler bedeutet und wie sie gepflegt werden kann.
Der Begriff der Heimat wird oft verklärt
und mit Fachwerkhäusern gleich gesetzt. Was ist Heimat denn
für einen Kulturwissenschaftler?
Bausinger:
Es gibt einen ganz interessanten Befund. Vor einigen Jahren gab
es eine große Umfrage, in der die Leute gefragt wurden, ob
sie sich eigentlich in ihrer Umgebung wohl fühlen oder ob sie
wegziehen wollen. Ich habe damals mit den Ohren geschlackert. Denn
88 Prozent sagten, sie wollten an dem Ort bleiben und nicht wegziehen.
Als zweites wurde dann gefragt, was die Leute als ihre Heimat betrachten.
Da haben etwa 40 Prozent die Antwort verweigert. Es bestand also
eine deutliche Diskrepanz zwischen denen, die sagen, sie fühlen
sich an ihrem Wohnort wohl, und denen, die sagen, das hier ist meine
Heimat.
Und was leiten Sie daraus ab?
Bausinger:
Ich denke, das hängt mit den Hypotheken zusammen, die mit dem
Heimatbegriff verbunden sind. Dass der Heimatbegriff ideologisch
aufgepumpt und gleichzeitig auf so Dinge reduziert wurde, wie zum
Beispiel die Fachwerkhäuser. Wenn von Heimat die Rede war,
war das lange Zeit so etwas wie eine Kulissenheimat. Denn über
die Mietkasernen hat niemand gesagt, das ist Heimat, und die Villen
draußen im Grünen auch nicht. Heimat musste alt und schon
ein bisschen morbide sein. Oder es gab die Unterstellung, dass etwas
alt ist.
Woran denken Sie dabei?
Bausinger:
Ich denke da zum Beispiel an Trachten, die ja zum Teil erst später
rekonstruiert oder konstruiert wurden. Und das war dann Heimat.
In den letzten Jahren gibt es aber Anstrengungen von irgendwelchen
Gruppen, die sagen, 'wir müssen die Heimat instandbesetzen'
und fragen, was Heimat eigentlich ist. Um konkret auf Ihre Ausgangsfrage
zurückzukommen: Ich denke, dass es in einer Gemeinde oder Region
wichtig ist, verlässliche Strukturen zu schaffen, die es möglichst
allen Leuten, die dort wohnen, erlauben, gemeinsam mit anderen ihr
Leben zu leben. Als heimatliche Anstrengung müssen zum Beispiel
auch die Auseinandersetzung um eine Straßenführung, die
ganzen Bauangelegenheiten oder der Kampf um Grünflächen
gelten. Das sind alles Dinge, die man als Heimatpflege bezeichnen
könnte, wenn dieser Begriff nicht so schnell in die andere
Richtung rutschen würde.
In Esslingen sind nicht nur Leute zu Hause, die
seit Generationen hier ansässig sind. Hier leben Menschen
unterschiedlicher geografischer oder sprachlicher Herkunft ...
Bausinger:
Das ist genau der Punkt. Indem ich Heimat nicht mehr von der Immobilität
der Vorfahren abhängig mache und daraus Kapital schlage, dass
die nie weggegangen sind, sondern alle, die hier leben, eine verlässliche
soziale und kulturelle Basis haben - indem ich also von der Blut-
und Boden-Heimat wegkomme - schaffe ich Heimat.
Nicht nur viele Trachten, sondern auch andere
Bräuche haben nur vermeintlich Tradition. In Esslingen war
das zum Beispiel der Maibaum. Wie historisch korrekt muss denn
die Traditionspflege sein?
Bausinger:
Es kommt nicht so sehr darauf an, dass etwas historisch korrekt
ist. Denn zum Historischen gehört ja auch der Wandel. Entscheidend
für mich ist, ob ein Brauch läppisch ist. Dann braucht
man ihn nicht weiter zu pflegen. Oder, ob er etwas bedeutet, was
aussagt und Freude macht. Das ist für mich der entscheidende
Gesichtspunkt und nicht so sehr der Stammbaum.
Bräuche werden ja auch umdefiniert, und das
ist ja auch ein Zeichen von Vitalität.
Bausinger:
Ja, genau. Vor zehn oder 20 Jahren hätte ich sehr wahrscheinlich
sehr böse Sachen gegen Trachtenvereine gesagt. Heute denke
ich, dass man zwar diesen ganzen ideologischen Überbau abschneiden
und den Kopf schütteln muss, wenn die Funktionäre meinen,
sie hätten das Abendland dadurch gerettet, dass die Leute Trachten
tragen. Auf der anderen Seite denke ich, das sind Freizeitvereine,
in denen die Leute ein Stück Heimat gefunden haben. Warum sollen
die nicht so rumlaufen, wenn es ihnen Spaß macht?
Nur, wenn der ganze ideologische Wust angehängt wird und jede
Lederhose Garantie für das nationale Erbe ist - also, dann
lieber nicht.
Die Geschichte Esslingens beschränkt sich
ja nicht aufs Mittelalter. Inwiefern gehören denn neuere
Entwicklung oder auch die kritische Rückbesinnung zur Traditionspflege?
Bausinger:
Auch eine kritische Rückbesinnung oder das Gedenken sollte
zur Tradition einer Stadt gehören. Seit etwa 20 Jahren gibt
es ja Geschichtswerkstätten, die sich zur Aufgabe gemacht haben,
vor Ort der Geschichte nachzugehen. Und eben nicht nur den Teilen
der Geschichte, die quasi nur noch als großes Gemälde
der Vergangenheit existieren, sondern auch dort, wo es heikel wird.
Es gibt bei uns eine gewisse Neigung, Geschichte ein Stück
weit in Vorgeschichte hereinzudrängen und von problematischen
Dingen abzusehen. Wenn zum Beispiel Vorträge über die
Stauferzeit angeboten werden, dann strömen die Leute. Wenn
es aber darum geht, die Revolution von 1918 kritisch zu untersuchen,
dann kommen ein paar versprengte Gestalten. Doch ich sehe da viel
Bewegung und es ist auch gut, dass solche Privatinitiativen da sind
und sich, zumindest teilweise, durchsetzen. Doch man muss in dieser
Richtung weiter bohren und die Phasen der Lokalgeschichte bewusst
halten.
Aus: Esslinger Zeitung vom 15.01.01
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