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Cand. phil. Mirko Herzog
"Mund an Mund, Brust an Brust, sich in wirbelnden Reihen zu drehen"
Vom Menuett zum Walzer: Zum Wandel der Tanzformen um 1800
Paar- und Gruppentänze führen in unserer Gesellschaft ein Dasein am Rande. Findet virtuose Tanzkunst auf Ballettbühnen oder in Tanzsportwettwerben noch viel Bewunderung, nimmt die Zahl der am Tanz Interessierten deutlich ab, wenn es gilt, Tanz nicht nur als Vorführung zu genießen, sondern selber und - miteinander zu tanzen. Auch die diversen Flamenco-, Salsa- und Tango Argentino-Wellen der letzten Jahre können über den geringen Stellenwert von Tanz als gemeinsames Erlebnis zu zweit nicht hinwegtäuschen. Discos und "Love Parades" auf Großstadtboulevards grenzen sich auf individualistische Tanzerfahrungen ein; Tanz-Workshops zielen in erster Linie darauf ab, mit alternativen Tanz- und Bewegungsformen vom Bauchtanz bis zum Capoeira-Kampftanz die Lust und Sinnlichkeit des eigenen Körpers erfahren zu lassen. Paarbezogenes Tanzen abseits saisonaler Ballveranstaltungen hat seit den 1960er Jahren Seltenheitswert, und Tanzstunden sind seufzend absolvierte Pflichtübungen junger Schüler und Schülerinnen, die keiner Bälle und Fünf-Uhr-Tees mehr bedürfen, um erste zarte Bande zu knüpfen. Und schon für ihre Eltern war die antiquierteste Art zu tanzen, gemeinsame Runden im Walzertakt zu drehen.
Heute - wo man/frau sich auf der Tanzfläche selbstständig als Individuum bewegen kann - gilt der Walzer als Inbegriff bürgerlicher Rollenkonvenienz auf dem Tanzparkett: der Mann führt, die Frau folgt. Eine angewinkelte Armhaltung und etwas versetzte Fußstellung sorgen für eine gewisse Distanz und das "klassisch schöne" Schweben übers Parkett.'
In der sanften Choreografie des Schwebens und Gleitens ist uns der Walzer vertraut. Da findet sich keine Aussicht auf den spontanen Aufruhr der Sinne und den Gewinn ursprünglicher menschlicher Lebensenergien, auf die uns heute nicht-westliche Tanzformen hoffen lassen. Und doch ist der Walzer - gehen wir zurück in die Zeit um 1800 - der erste Tanz, mit dem in den Oberschichten eingefordert wurde, was auch heute im Tanzen als lebensvoll, locker und "natürlich" gilt. Denn um 1800 wurde ganz anders gewalzt: mit Hüpfschritt, engumschlungen und im Körpergefühl unbeherrschter. Die strikte Paarbezogenheit des Walzers wurde als skandalöser Verstoß gegen den althergebrachten guten Ton empfunden - zum ersten Mal gab es keine Reverenzen und Tanzfiguren, die dazu bestimmt waren, die Zuschauer zu ehren und zu erfreuen. So zu tanzen, hatte sich vordem nur das "Volk" erlauben dürfen. Vor dem Hintergrund der Französischen Revolution setzte sich erstmals ein Tanz in der "guten Gesellschaft" durch, der ein gesteigertes Lebensgefühl durch ein lockeres und rauschhaftes Körpergefühl propaglerte, durch offenere Erotik und einen Bewegungsablauf, der auf kunstfertige Figuren verzichtete. In der Kulturgeschichte hat der Walzer einen hohen Symbolwert. Hervorgegangen aus bäuerlich inspirierten Drehtänzen, gilt er als "revolutionäres"Zelchen eines aufbegehrenden Bürgertums. Mit dem Walzer setzte sich "der Bürger vom menuetttanzenden "Adel" ab: statt Geometrie, Symmetrie und Distanz ein beliebiges Drehen der Paare in enger Umarmung.
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Wie alle kulturellen Phänomene unterliegt auch das Tanzverhalten dem Wandel der Zeit und zeigt, wie verschieden sich die Menschen und ihre Umgebung wahrnahmen. Gesellschaftstänze dienen deshalb Kultur- und Sozialhistorikern als eine Möglichkeit, sich dem Selbstverständnis vergangener Gesellschaften anzunähern. Veränderungen in den Tanzschritten und Tanzbewegungen einer Epoche werden dabei in Beziehung zum Wandel auf anderen Lebensgebleten einer Gesellschaft gesetzt.' Mein Beitrag befasst sich mit dem Wandel der Tanzformen um 1800 und skizziert die Veränderungen an einem Aspekt, der für die Aufstiegsgeschichte des Bürgertums im deutschsprachigen Raum typisch ist:
Bis ins 19. Jahrhundert und über das Ende der ständischen Gesellschaft hinaus war der bürgerliche "Mittelstand" gezwungen, sich aus karrieristischen Überlegungen einerseits an die höfische Adelskultur anzupassen, sich andererseits aber auch abzugrenzen, um eine eigene kulturelle - "bürgerliche" - Identität aufzubauen. Auch gegen unten, gegen städtische und ländliche Unterschichten, galt es sich abzuheben. Mit dem gefühlsbetonten Individualismus unter dem Schlagwort "Zurück zur Natur" ließ sich in der Literatur gut gegen den "erstarrten" und "verkünstelten" Hofadel moralisch polemisieren ("Sturm-undDrang"-Bewegung, u. ä.); praxistauglich für den sozialen Alltag, in dem sich "der Bürger" gegen den ständisch dominanten Adel zu behaupten hatte, war diese Strategie freilich kaum. Umgangsbücher, Almanache und Journale entwickelten deshalb das Ideal einer vernunftbegründeten
Natürlichkeit des Tuns und Seins.
So waren denn auch - um zum Walzer zurückzukehren - die bäuerlich inspirierten Dreh- und Hüpftänze am Ende des achtzehnten Jahrhunderts einerseits Protest einer jungen Generation gegen emotionale Selbstverleugnung und überkommene Wertmuster. Andererseits war das lustbetonte Walzen und Hüpfen auf dem polierten Parkett zu "anarchisch´ und volksnah, um auf die Dauer von den Oberschichten akzeptiert zu werden.
Die Abwertung höfischer Zeremonialtänze wie dem Menuett zugunsten eines gelockerten "natürlicheren" Körpergefühls beim Walzer bedeutete keine "revolutionäre " Umwertung elltärer Tanzästhetik. Wohl beginnt der Aufstieg des Walzers mit der Brüskierung höfischer Tanznormen, setzt sich aber fort mit der Anpassung an tanzästhetische Traditionen des Ancien Regimes. Mit dem politischen und wirtschaftlichen Aufstieg des Bürgertums im Laufe des 19. Jahrhunderts verlor der Walzer seinen temperamentvollen "Protestcharakter" und wandelte sich vom ekstatischen Drehen
zum wohltemperierten Schweben.
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Anmut in Geometrie und Distanz: Tänze der Renaissance und des Barock
Unter den vielen Definitionen von "Tanz" gibt es den Versuch, einen gemeinsamen für alles menschliche Tanzen zu finden. Dieser Deutung zufolge drückt sich im Tanzen ein "gesteigertes Lebensgefüht' aus.' Bestimmte Schritt- und Bewegungsabläufe werden als befreiend und erhebend empfunden; die Tanzenden spüren Lebenskraft, Zuversicht und mitunter auch eine physische und psychische Anspannung, die sich dem Körpergefühl als lebensvoll und kräftesteigernd mitteilen. Diese Auffassung kommt jenen Zeilen über die " Tantz= Kunst" sehr nahe, die sich in einem Lexikon aus der Mitte des 18. Jahrhunderts finden; in der " Tantz=Kunst", heißt es, werde "durch deren wohlgeordnete Ausübung der menschliche Leib zu allen Verrichtungen agil und geschickt gemacht, das Gemüth erfreuet und gestärcket, die Lebensgeister ermuntert, und zu allen wichtigen Geschäff-ten gleichsam aufdas neue beseelet werden "'.
Die wohltuenden Auswirkungen des Tanzens auf Leib und Seele werden ausdrücklich in Verbindung mit der " Tanz-Kunst" gebracht, also einem gewissen Maß an Können und Kunstfertigkeit, "wohlgeordnet"zu tanzen. Dazu bedurfte es zweifellos des Unterrichts. Spätestens seit der Renalssance galt die Fertigkeit, gut zu tanzen, als Voraussetzung für den Eintritt in die vornehme Gesellschaft; die ersten Tanzbücher erschienen am Ende des 16. Jahrhunderts in Oberitalien. Tanzmeister waren im 17. und 18. Jahrhundert in ganz Europa eine hochangesehene Profession und fanden sich an Höfen, in Städten und an
Universitäten.
Kirchlichen Anfeindungen zum Trotz diente der Tanz sowohl dem geselligen Vergnügen als auch dazu, den Standesglanz mit Anmut vorzuführen. Neben Reiten und Fechten galt Tanzen als körperliches und geistiges Exerzitium und hatte seinen festen Platz im Erziehungskonzept der Zeit. Welche Bedeutung dem Tanz zugemessen wurde, zeigen eindrucksvoll die umfangreichen Tanzsammlungen der "Derra de Moroda Dance Archlves", eines der bedeutendsten Zentren für Tanzforschung in Mitteleuropa
und beheimatet am Salzburger Institut für Musikwissenschaft. Tanzbücher, Bilder und Manuskripte aus drei Jahrhunderten geben
Zeugnis von der zentralen Rolle, die der Tanz in der höfischen und bürgerlichen Fest- und Alltagskultur spielte.
In allen seit der Renaissance überlieferten Tanzbüchern wird als Ziel intensiver Übung die ungezwungene Leichtigkeit beim Tanzenbeschrieben. Unter "Natur und ªNatürlichkeit " verstand man etwas, das erst durch menschlichen Formwillen erreicht und präsentabel gemacht wurde. Der jahrelange Tanzunterricht wurde als Anleitung verstanden, den Körper nach quasi "mechanisch"einzuübenden Gesetzen zu einem harmonischen Bewegungsverhalten anzuhalten. Tänzerische Noblesse bedeutete nicht, behäbig und automatenhaft aufzutreten; vielmehr verlangten die technisch zum Teil sehr anspruchsvollen Hoftänze der Renaissance und des Barock ein Höchstmaß an körperlicher und geistiger Beweglichkeit. Die vielen Tänze der Renaissance und des Barock sollen hier nicht aufgellstet noch beschrieben werden; unverzichtbar aber für das 18. Jahrhundert zu erwähnen ist das Menuett (von franz. "pas menu "kleiner Schritt". Es errang ab 1700 eine Monopolstellung im Tanzunterricht und Ballsaal und überholte die rund zwölf anderen, ebenfalls französisch geprägten Tanzformen (Gavotte, Sarabande, Gigue, etc.) weit an Beliebtheit. Dame und Herr näherten und entfernten sich entlang der Raumfigur eines "Z" oder umkreisten sich in filigranen Schrittkombinationen.
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Fassen wir die den Hoftänzen gemeinsamen Bewegungselemente zusammen, die zwischen dem späten Mittelalter und dem 18. Jahrhundert schönes Tanzen ausmachten: Anmut im höfisch inspirierten Tanz bedeutete grundsätzlich eine nach oben gerichtete Leichtigkeit, die sich in ruhiger und aufrechter - nicht versteifter - Haltung beim Schreiten als auch in Sprüngen manifestierte. Das schwebende Gehen wurde vor allem dadurch erzielt, dass man sich auf die Ballen der Füße erhob. Dem Prozessionscharakter der mittelalterlichen Hoftänze folgten ab dem 16. Jahrhundert flächengeometrische Elemente. Bis ins 18. Jahrhundert unerlässlich war die Ausrichtung der Raumfiguren und Reverenzen auf die Zuschauer. Besonders im Barock wurden die Gesellschaftstänze gleichsam wie für eine Bühne choreografiert: Alle Schritte und Figuren waren auf das Kopfende der Tanzfläche hin ausgerichtet, wo sich die ranghöchsten Zuschauer befanden. Großen Wert wurde im Barock auch auf die präzise Armführung gelegt: Die Arme wurden in einer festgelegten Fingerhaltung kunstvoll geführt und in Übereinstimmung mit den Beinen gebracht, die einmal schnelle, dann wieder langsamere Schritte machten, während der Oberkörper ruhig und entspannt blieb. Mit wenigen Ausnahmen beschränkte sich der Körperkontakt der Tanzpartner auf Hand- oder Fingerberührung.
Jahrhundertelang legten Adel und Stadtbürger Wert darauf, sich in ihrem Tanzverhalten von den Unterschichten abzugrenzen. Ihre Tänze entstammten aber nur zum geringen Teil dem höfischen Zeremoniell. Überwiegend waren es Tänze der ländlichen oder städtischen Bevölkerung, die durch adellge Tanzmeister dem höfischen Bewegungsmuster angepasst, in Ballettaufführungen bei Hofe präsentiert und vom Publikum übernommen wurden. Die Umformung ländlicher Sprung- und Reigentänze durch Adel und Bürgertum gilt als Beispiel für die "zivilisierte" Mäßigung und Gezwungenheit in den privilegierten Schichten. Während das Volk seinen Gefühlen und Leidenschaften freien Lauf lassen kann, entfremden sich die Oberschichten zunehmend der menschlichen Natur, je weiter der "Prozeß der Zivilisation" voranschreitet (so der Titel eines berühmt gewordenen Werkes von Norbert Ellas).' Ihre Distanziertheit, ja, Unterdrückung von Gefühlen und Gefühlsäußerungen - kurz, ihre unnatürliche Lebensweise - wird in den stilisierten Zeremonialtänzen sinnbildhaft zum Ausdruck gebracht. "Das Volk" hingegen hüpft, stampft und springt in handfester Fröhlichkeit und ungestümer Tanzlust. Grundsätzlich war das Bewegungsrepertoire der "Bauerntänze"oder "Nationaltänze"- der Begriff "Volkstanz" setzte sich erst am Ende des vorigen Jahrhunderts durch - der höfischen Tanzästhetik entgegengesetzt und bot mehr Freiraum für Improvisation. Auf Bildern oder in Reiseberichten kehren meist Merkmale wieder wie Hüpf-, Stampf- und Sprungschritte und ein mehr oder minder enges Paartanzen, das sich nicht viel um die Zuschauer bekümmerte.
Die Darstellungen lassen den bäuerlichen Tanz fröhlich, aber ungeschlacht erscheinen. Doch ist verschiedentlich überliefert, dass ländliches ´Tanzen nicht immer und überall so simpel und "grob" sein musste.' Für den deutschen Sprachraum sei noch einmal aus dem Lexikon aus der Mitte des 18. Jahrhunderts zitiert: Die Tänze der Landbevölkerung, räumt der Autor ein, könnten sehr wohl das Auge erfreuen - "weil off-t einige wohlgesetzte frische Bauernkerl und Baurnmägde (sic) sich darunterfinden, die eben so ungeschickt nicht tantzen, hurtig auf den Füssen, und manirlich in Wendungen sl'nd, und mancher Dorffgalan seine Phillis bey solchem Dorff=Hochzeit =oder Kirchmeßtantz so herum zu schwingen weiß, daß es ei'ne Lust anzusehen iSt" 7. Geradezu begeistert äußert sich der Ballettmeister Jean-George Noverre um 1760 über die Reigentänzer in deutschen Dörfern und lobt ihr musikalisch wie tänzerisch präzises Können.' Doch derlei BeobachtLingen sind so spärlich wie Cberlieferungen zu den ursprünglichen Schrittmustern und Raumfiguren. Bis weit ins 19. Jahrhundert waren es die Tänze der Oberschichten, die in Schrift und Bild ausführlich festgehalten wurden und ihrerseits die Volkstanzformen beeinflussten.'
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Im Taumel der Sinne: Tänze um 1800
In einer ständischen Gesellschaft war die körperliche Anmut ein Abgrenzungsmittel von den lebhaften gedrehten,gestampften und gesprungenen Reigentänzen des "Volkes". Diese Anmut und Nonchalance wurden durch intensiven und kostspieligen Unterricht erzielt. Als ideales pädagogisches Mittel, durch präzise Kontrolle des gesamten Körpers dessen Schönheit und Grazie zu entfalten, galt seit Beginn des 18. Jahrhunderts das Menuett.
Als gegen Ende des Jahrhunderts Drehtänze in der "guten" Gesellschaft Einzug halten, mussten sich die Tanzmeister mit einem Tanzverhalten auseinandersetzen, das dem adlig-höfischen Bewegungskanon völlig entgegengesetzt war: Statt dem schwebenden Gehen und anspruchsvoller Fußtechnik nun ein mit kleinen Hüpfschritten kombiniertes Drehen; statt Distanz zwischen den Tanzpartnern eine engumarmende Körperhaltung des Tanzpaars; statt komplizierter Raumwege die einfache Kreisform; statt steter Selbstkontrolle des Körpers eine Hingabe an spontane und willkürlich gesetzte Bewegungen und Schritte. Selbst die jungen Hofleute, geht um 1790 die Klage, würden nun dazu neigen, "selbst ihren Körper zu vernachlässigen" und anfangen, "ohne alle Grazie beim Tanze herumzuspringen " ".
So schreibt ein Tanzmeister über den "Hopser", einen walzerartigen Drehtanz um 1800:
An sich, ist der Hopser ein ganz simpler Tanz, weil wenig, ja selten abwechselnde Figuren, ... theils dazu genommen werden, theils dazu genommen werden können. Alle Touren sind aus dem Englischen entlehnt, und werden in allen Gesellschaften stets überein getanzt. Das eigentliche, dazu gehörige Pas, machen die Wenigsten recht, die Mehresten hüpfen und springen die Kreuz und die Quer, als wollten sie toll werden
lassen nicht eher nach, bis sie gänzliche Ermattung zum Stillstehen zwingt, ... jeder Landmann, jeder Gassenbube kann ohne Anstand,
und ohne sich vorher davon unterrichten zu lassen, auf diese Art mittanzen, denn, was ist wohl leichter als dies? ''
Der "Hopser" oder die "Hopsangloise" war ein Tanz, der das Drehen des Walzers mit den populären "englischen Tänzen" (Kontretänze) verband. Dies waren Gruppentänze von zwei, vier bis mehr Paaren, deren Raumwege sich nicht an geometrischen Figuren orientierten, sondern an den Mittänzern. Dem Lamento des Tanzmeisters über die ästhetische - und seiner Profession bedrohlichen - Regellosigkeit beim Tanzen folgt umseitig die korrekte Schrittanleitung Uch erinnere nochmals, daß ... der Körper sich heben muß, daß man das Pas gleichsam schwebend macht. Der ganze Körper muß
ausgestreckt und voll Anstand seyn, ... '9.12 Sie soll helfen, beim Tanzen die Standeswürde zu bewahren und sich so
von den sozialen Unterschichten in Land und Stadt abheben zu können.
Die Hopsangloise gehört zu einer Reihe von Drehtänzen um 1800, die in der Tanzliteratur späterer Zeiten unter dem Sammelbegriff "Walzer" zusammengefasst wurden. Es ist hier kein Platz, auf die zahlreichen Sonderformen des Walzers einzugehen oder seine möglichen Ursprünge zu erörtern; sowohl der Variantenreichtum als auch die unklare Herkunft des Walzers schlagen sich in den vielen Bezeichnungsarten nieder: Schwäbischer, Deutscher, Französischer Walzer, Tyroler. Triller oder Ländler, Steyrischer, Schleifer, Wiener Raschwalzer oder Langaus." In einer Broschüre von 1801 wird zwischen Walzer und Deutschen getrennt; der Walzer wird wegen seines gesundheitsschädlichen Tempos als "giftige Schlange" kritisiert,` der sachtere Deutsche hingegen gepriesen: "Für Liebende ist der Deutsche der beglückendste, günstigste Tanz. Welches Entzücken, weiche Seligkeit für Liebende Mund an Mund, Brust an Brust, sich in wirbelnden Reihen zu drehen?" " Zeitgenossen unterschieden gemeinhin den langsamen Walzer oder "Dreher", den schnellen Wiener Walzer (er übertreffe, heißt es, "alles an wilder Raschheit'9 und die erwähnte Hopsangloise. Die Walzerformen konnten durchaus ineinander übergehen. `
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Grundsätzlich stellen der oder die Walzer am Ende des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung im Gesellschaftstanz dar, die sich schon ab der Jahrhundertmitte anbahnt. Diese Veränderungen betrafen die Tanzformen wie das Tanzverhalten.
Neben dem Menuett gewannen im deutschen Sprachraum zwei andere Tanzformen an Beliebtheit: die schon erwähnten Gruppentänze der Kontretänze oder "Englischen" mit munteren, leicht hüpfenden Geh- und Laufschritten, sowie der "Deutsche" Der Deutsche, auch "Allemande"genannt, war ein rasch gedrehter Paartanz, der mit kunstvollen Armverschlingungen ausgestattet wurde und bei dem sich die Paare sehr nahe kamen. Im Deutschen findet sich der spätere Walzer am deutlichsten vorgeprägt.
Nicht nur betonten diese populären Tänze den gesellig-zwischenmenschlichen Charakter des Tanzens deutlicher als die formalisierte höfische Tanzästhetik. Im letzten jahrhundertdrittel verbreiteten sich außerdem Mischformen der genannten Tanztypen, die dadurch noch lockerer und individueller erlebt werden konnten: Menuetts wurden mit Kontretanz-Figuren ausgestaltet und erweiterten sich vom repräsentativen Solo-Paartanz zum Tanz für drei bis vier Paare, in Kontretänze wurden die Armverschlingungen des Deutschen einbezogen oder Elemente europäischer "Nationaltänze" wie Tarantella oder Fandango eingestreut.
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In den wechselseitigen Beeinflussungen der drei beliebtesten Tanzformen widerspiegeln sich die Überschneidungen über Standesgrenzen hinweg, die in den volks- und vergnügungsreichen Residenz- und Handelsstädten dort möglich waren, wo sich die adellgen und bürgerlichen Lebensbereiche überlagerten: öffentliche Parkanlagen, Theater, öffentliche Maskenbälle (,Redouten') und städtische Promenaden. Den Deutschen genoss die höfische Gesellschaft zumindest auf den Redouten oder bei exklusiven Divertissements zu Hofe im Bauern- und Schäferkostüm (die schwereund ausladende Hofkleidung hätte schnelle Drehtänze und Armverschlingungen ohnehin nicht erlaubt). Aus dem Jahr 1785 überliefert ist ein Bericht
über ein dörfliches Erntedankfest bei Berlin, bei dem junge Bauern und Bauernmädchen zur Oberraschung des anwesenden
Hofadels "englische Tänze undfranzösische Pas ganz regelmäßig und zierlich"
tanzten - und zu diesem Zweck einen Tanzmeister engagiert hatten.`
Der Zusammenhang, in dem diese Anekdote berichtet wurde, und die Publikation, in der sie abgedruckt wurde, sind der näheren Betrachtung wert. Berichtet wird diese Episode im Rahmen einer Serie, die sich ,Über den Luxus in Berlin" betitelt und 1787 in dem Weimarer journal des Luxus und der Moden" erscheint. Die Serie kritisiert den alle Stände durchziehenden Hang zum Luxuskonsum und die Nachahmungssucht der mittleren und unteren Stände. Argumentiert wird vor allem mit dem "volkswirtschaftlichen" Schaden, den die Extravaganzen einer ständeübergreifenden Prestigesucht verursachen. Die Missbilligung der so elegant tanzenden Bauern ist offenkundig: Einen Tanzmeister ins Dorf zu engagieren, um so tanzen zu lernen wie die adeligen Gäste, ist eine dem Stand und Geldbeutel unangemessene Verschwendung. Das journal des Luxus und der Moden" (1786-1827) war die erste und im deutschen Sprachraum lange Zeit führende Zeitschrift für den "bon ton"einer adeligbürgerlichen Leserschaft. Es richtete sich gleichermaßen an Frauen wie Männer. In Fragen von Kleidung, Wohnkultur und Formen geselliger Unterhaltung - also auch des Tanzens - wurde besonders dem bürgerlichen Mittelstand breiter Raum gewidmet. Dieser war einerseits dem Imitationssog höfischer Adelskultur ausgesetzt, sollte aber andererseits ein Vorbild an Leistung und Sittsamkeit für die ihm nachfolgenden Schichten sein. Die Episode des Dorftanzes ist deshalb mahnendes Beispiel für die bürgerlich denkenden Leser. In hundertfachen Variationen propaglerte das Journal ein spezifisch "bürgerliches" Leistungs- und Nutzenideal, das den bürgerlichen Schichten helfen sollte, zwischen der Anpassung an, und der Abgrenzung gegen die Adelskultur durchzubalancieren." Für den Erfolg der Leistungsphilosophie notwendig war eine gewisse Kontrolliertheit der Gefühle; die "glückselige Mittelstraße" zwischen zuviel und zuwenig galt dem journal als Lebensweg für den vernunftgeleiteten Bürger." Die Narrheiten müßiggängerischer Reicher und Adeliger werden getreulich notiert und entweder offen oder zwischen den Zeilen kritisiert; romantische Literaturmoden als Ausfluss überspannter Gefühlsseligkeit
bespöttelt.
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Demzufolge werden auch die Tanzmoden, über die das journal berichtet - und das heißt um 1800 über den Walzer - einer mißtrauischen Prüfung unterzogen. Jedermann dreht, aber nicht jedermann tanzt den Dreher. " ' Dass jedes in sich versunkene Paar seine Walzertouren individuell gestaltet, zeitigt nur ein heilloses ungeschicktes Durcheinander auf der Tanzfläche. Im Bild des aneinandergepressten Tanzpaares, das ganz ins ekstatische Kreiseln gerät, erscheint das modische Motto "Zurück zur Natur", mit dem sich so trefflich höfische Verkünsteltheit schmähen ließ, satirisch gebrochen: " Wer weiß, was wir bey unserer Annäherung an die Natur noch Für lustige Tänze in der Nähe zu sehen bekommen, um die man sonst zu den Kindern der Natur ans Vorgebürge der guten Hoffnung oder nach Otahiti reiste. " -
Der weiteren "Annäherung an die Natur" setzten freilich schon die ersten Tanzlehrbücher Grenzen, in denen der Walzer, Dreher oder Hopser so choreografiert wurde, dass er in jene "glückliche Mittelstraße"passte, die der Bürger auch auf dem glatten Parkett der Gesellschaft entlangtanzen wollte: Statt "hifsch" abgezirkelten Raumwegen zu folgen, konnte das Tanzpaar im Schwung der Bewegung Besitz des sich stets neu eröffnenden Raums ergreifen und sich an der Dynamik erfreuen. Tanzte im Menuett die Dame die gleichen symmetrischen Raumfiguren wie der Herr und waren beide fast immer voneinander getrennt, lag die Dame beim Walzer im Arm des Herrn und vertraute sich seiner Führung an. Andere Distinktionsmerkmale entstammen der althergebrachten Ästhetik höfischer Vorbilder: Ein aufrechter ruhiger Oberkörper und auf dem Ballen drehende Füße sorgten für jene schwebende Leichtigkeit, die schon der höfischen Welt als tänzerische Eleganz galt - und als Standeszeichen gegen die wilden"Tänze bäuerlicher Unterschichten.
Es sollte noch geraume Zeit dauern, bis "der Bürger" als historischer Sieger über "den Adel" auch auf dem gesellschaftlichen Parkett den Ton angab. Die weitere Geschichte des Walzers und der ihm nachfolgenden Tänze wie der Polka muss ausgespart bleiben; hier sollte nur seine Frühphase nachgezeichnet werden, in der Teile der Gesellschaft ein freieres Körpergefühl durch ein individuelleres Tanzen einforderten. Dabei griffen sie auf just jene Tanzelemente zurück, die den Bewegungskanon ländlicher und städtischer Unterschichten ausmachten und nicht zuletzt deshalb aus der höfischen Tanzästhetik verbannt worden waren.
Der Aufstieg und Werdegang des Walzers entspricht einem Muster in der Tanzgeschichte, das häufig bei Phasen gesellschaftlichen Aufbruchs wiederkehrt. Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Klein hat sich mit diesem Muster in ihrer Zivilisationsgeschichte des abendländischen Tanzes beschäftigt: 21
Im Wunsch nach einem lustbetonten Tanzen - wie er sich im ursprünglichen Walzer ausdrückte - greifen Randgruppen der Gesellschaft volkstümliche oder exotische Tanzformen aLif Kurzfristig lancieren sie ein Bewegungsrepertoire, das von den Oberschichten als "anarchisch" empfunden wird - und sukzessive übernommen, während es gleichzeitig umgeformt und ihrer Tanzästhetik angepasst wird. In umgekehrter Richtung von "oben" nach "unten" verbreitet sich nun der "gezähmte"oder "zivilisierte" Tanz als ästhetisch normierter "Gesellschaftstanz".
Gegen die Wende zum 20. Jahrhundert galt schließlich der Walzer seinerseits als Ausdruck überkommener und verkünstelter Denkmuster. Wieder wird neue lebensvolle Ursprünglichkeit im Tanzen eingefordert, und auch diesmal findet sie sich in den"natürlichen"Tänzen" des Volkes"- nun aber in den "Naturvölkern"ferner Dschungel und Steppen. In immer kürzeren Schüben tauchen zwischen dem Ersten Weltkrieg und den sechziger Jahren neue Tanzformen aus Afrika und Südamerika auf - Ragtime, Tango, Charleston, Rock'n Roll, etc., - die ebenso rasch in die abendländische Körperform gepresst werden. Wie beim Walzer wiederholt sich bei jedem neuen Gesellschaftstanz der schwärmerische Anspruch auf mehr Individualismus und greift man für ein freies lustbetontes Körpergefühl auf volkstümliche Tanzelemente zurück. Mit den Solo-Platztänzen' in denen Frau und Mann nebeneinander und gleichberechtigt tanzen, wird spätestens ab den sechziger Jahren die Epoche des autonomen Individuums auch auf der Tanzfläche eingeläutet; das Angebot an Ichbetonter Lust- und Energieerfahrung verlagert sich freilich auf nicht-westliche Bewegungsformen. Seither vervielfältigen sich die Möglichkeiten, ursprüngliche menschliche Lebensenergien im Workshop und auf Wochenendkursen wiederzufinden. Auf unserer nimmermüden Suche nach der ultimativen Ich-Erfahrung im Tanzen sorgt ein rasch wachsendes und rasch wechselndes Angebot an alternativen Bewegungsformen dafür, dass unserer autonomen Selbstentfaltung keine Grenzen gesetzt werden. Ob wir erfolgreicher als die walzertanzenden Bürger um 1800 sind, unsere Sehnsucht nach mehr Freiheit und Sinnlichkeit mit dem eigenen Lebensbereich zu verbinden, bleibt dahingestellt.
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Anmerkungen:
1) Augst, Helen Ann: Das große Buch der Standardtätize. München 1995, S. 11.
2) Z. B. Eichstedt, Astrid, und Polster, Bernd: Wie die Wilden. Rotbuch Verlag, Berlin 1985; Braun, Rudolf, und Gugeri, David: Macht des Tanzes - Tanz der Mächtigen. C. H. Beck Verlag, München 1993; Saftien, Volker: Ars saltandi. Der europäische Gesellschaftstanz im Zeitalter der Renaissance und des Barock. Georg Olms Verlag, Hildesheim 1994.
3) Vgl. Saftien, S. 26.
4) Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexikon, Leipzig und Halle 1744, Band 41, Spalte 1762.
5) Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. 14. Auflage 1989, Frankfurt/Main, 2 Bände.
6) Vgl. MGG, Sachteil 9, Spalte 376 - 377.
7) Zedler, Universal-Lexikon, Band 41 (1744), Spalte 1762.
8) Noverre, Jean George: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette. Hamburg und Bremen 1769, S. 266f. (12. Briefl.
9) Vgl. Petermann, Kurt: Wechselbeziehungen zwischen Volks- und Gesellschaftstanz. Tanzhistorische Studien 11, Heft 7, hg. vom Deutschen Bundesverband Tanz (Berlin/Ost 1982); a. MGG, Sachteil 9, Spalten 365, 378 und 379.
10) Knigge, Adolph Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen. Insel Verlag,
Frankfurt/Main 1987, S. 32 1.
11) Mädel: Die Tanzkunst für die elegante Welt. Erfurt 1805,S.149f.
12) Mädel, S. 152.
13) Vgl. dazu janz", Spalte 288. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG).
Sachteil 9, hg. von Ludwig Finscher, Bärenreiter Verlag, Kassel
1997, Spalten 228 - 407; a. Braun/Gugeri, S. 206.
14) Wetzler, Johann Evang.: Ueber den Einfluß des Tanzes auf die Gesundheit ... Landshut 1801, S. 28.
15) Wetzler, S. 10.
16) Vgl. "Tanzmoden". In: Journal des Luxus und der Moden", hg. v. Friedrich Justin Bertuch, Juni 1797, S. 289 - 292, Weimar 1797, hier S. 290~
17) Vgl. MGG, Sachteil 9, Spalte 283; a. ibid, Spalte 410.
18) "Ueber den Luxus in Berlin", S. 414. In: Journal des Luxus und der Moden", hg. v. Friedrich Justin Bertuch, Dezember 1787, S. 399 - 415. Weimar 1787.
19) Zum Journal vgl. genauer Herzog, Mirko: Wenn unsere Damen die Hausfrau an den Nagel hänget ..." In: Barth Scalniani, Gunda/Brigitte Mazohl-Wallnig, u. a.: Genie und Alltag. Bürgerliche Stadtkultur zur Mozartzeit.
Otto Müller Verlag, Salzburg 1994, S. 35 - 101.
20) Journal des Luxus und der Moden", Juni 1793, S. 357; Mai 1797, S. 264.
21) ebd., März 1797, S. 115 ("Der Dreher").
22) ebd., März 1797, S. 117 ("Der Dreher").
23) Klein, Gabriele: FrauenKörperTanz. QuadrigaVerlag, Berlin 1992.
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