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Geneigter Leser
Grundstock für unsere jetzige Volkstanzszene in Baden-Württemberg
war die Jugendbewegung, die nicht in ununterbrochener Tradition
getanzt hat, sondern (Volks)tanz hauptsächlich als Gemeinschaftserlebnis
mit – vor allem norddeutschen oder auch neuen Gruppentänzen
– betrieben hat. In Folge dieser Tanzpraxis wurde schließlich
auch nach regionaler Überlieferung gesucht und es entstanden
die Tanzaufzeichnungen, auf die wir uns heute berufen. Diese Aufzeichnungen
waren oft zufällige Momentaufnahmen oder auch Jugenderinnerung
älterer Leute. Da es sich meist um kleine, relativ simple Paartänze
handelte, wurden sie teilweise zu Tanzfolgen zusammengestellt (aufgepeppt).
Um bei Tanzfesten, synchronisiert, paarweise die selben Tänze
tanzen zu können, wurde und wird ein vereinheitlichtes Repertoire
und eine Standardisierung angestrebt, so haben sich teilweise feste
Abfolgen für die verschiedenen Varianten eingebürgert.
Diese regionalen Tänze bildeten nur eine Ergänzung zum
bisherigen Repertoire der Gruppentänze.
Die Heimatzunft hat sich von der jugendbewegten Tanzpraxis gelöst
und die damals aufgezeichneten regionalen Tänze zum Schwerpunkt
ihrer Arbeit gemacht. Die HZ war damit richtungsweisend für
die ganze Baden-Württembergische Volkstanzbewegung.
Diese Selbsteinschränkung scheint jetzt zum Problem zu werden.
Die überlieferten Tanzformen, von denen es eine kaum überschaubare,
sich aber meist nicht wesentlich voneinander unterscheidende Vielzahl
regionaler Variationen gibt, lassen sich im Kern eigentlich auf
sehr wenige einfache Rhythmen, Grundschritte und Grundtanzformen
reduzieren. Diese Vielzahl, der sich nur im Detail unterscheidenden
eigentlich meist simplen Tänze, ist selbst für geübte
Tänzer nur durch ständiges Training und Wiederholung beherrschbar.
Die Tänzer sind verunsichert und erwarten die Hilfe des Tanzleiters.
Dies führt zu einer Dauerpräsenz des Tanzleiters und zu
einem vereinheitlichten, unselbstständigen, unkreativen Tanzgeschehen.
Während der weniger Geübte sich eher überfordert
fühlt, kommt es beim geübten Tänzer auf Grund ständiger
Wiederholung von Ähnlichem gleichzeitig aber zu einer gewissen
Sättigung und Langeweile. Der Spaß an der Bewegung zur
Musik hält sich so bei beiden Gruppen in Grenzen. Tanzveranstaltungen
wird durch den hohen Anteil der nötig scheinenden Wortbeiträge
jegliches Tempo genommen.
Die derzeitige Volkstanzpraxis ist meist sehr puristisch und lustlos.
Oft wird die kleine überlieferte Tanzform nach langatmiger
Anleitung und Einweisung durch den Tanzleiter „treu dem guten
alten Brauch“ buchstabengenau mit der dafür vorgesehenen
Melodie, auf Körperhaltung, Fassung, runden Kreis und gleichmäßige
Abstände achtend, ohne Variation wiederholt, bis das Ende der
Musik die Tänzer erlöst. Maßgeblich für das
wann, was und wo, ist nicht die Musik oder das Befinden der Tänzer,
sondern einzigdas der Tanzleiter/in (- oder besser Übungsleiter/in??).
Selbstbewusster, kreativer Umgang mit den Tänzen ist die absolute
Ausnahme. Die Fähigkeit hierzu erlangt der Tänzer nur
durch besonderes Talent oder als Nebenprodukt jahrzehntelanger intensiver
Tanzpraxis. Der Tanzunterricht und die Tanzleiter heutigen Typs
arbeiten nicht gezielt darauf hin. Vielmehr wird der Tanzschüler
mit der Vielzahl der kleinen Tanzformen, die nur selten zueinander
in Beziehung gestellt werden, erschlagen. Der Tanzschüler wird
so zur Unselbstständigkeit verurteilt, der Tanzleiter macht
sich unersetzlich.
An Übungsabenden und auf so genannten „Tanzfesten“,
die meist wenig mit einem Fest im eigentlichen Sinn zu tun haben,
kann man einen improvisierenden Umgang mit unseren Tänzen auch
nicht üben. Wenn man dort die angesagte Tanzform variiert,
mit anderen kombiniert oder im wahrsten Sinne des Wortes „aus
der Reihe tanzt“, bekommt man durch die Reaktionen das Gefühl
vermittelt, nicht „das Richtige“ zu machen. Langjährige,
versierte Tänzer, die eigentlich auf Grund ihres Könnens
problemlos alle Tänze mitmachen könnten, verlieren die
Lust am Tanzen.
Unsere überlieferten Tänze werden im jetzigen Gebrauch
oft als wenig anspruchsvoll und langweilig empfunden. (Um mit Begeisterung
genau wie überliefert und gelehrt ohne Variation fünf
Minuten Weingartner Rheinländer, Waldegger oder Schlittschuhläufer
am Stück zu tanzen, müssen sich die Hormone schon sehr
in Wallung befinden).
Da es schwierig ist bei dieser Art der Tanzpraxis Erfüllung
zu finden, wird die Rückbesinnung auf die regionalen Tanzformen
fast automatisch als Beschränkung empfunden. Wenn man bewusst
das Tanzrepertoire nicht in angrenzende Regionen und verwandte Stilrichtungen
erweitern will, bleibt als Herausforderung und Abwechslung das Ziel,
möglichst viele Tänze gleichzeitig in seinem Gedächtnis
abrufbereit verfügbar zu haben. Einzigste Möglichkeit
sich auf diesem Weg selbst zu verwirklichen und mit den überlieferten
Tänzen kreativ zu werden, ist es, selbst Tanzleiter zu werden,
das Programm zu bestimmen und andere tanzen zu lassen, anstatt selber
zu tanzen.
Die Motivation regionale Volkstänze zu machen kommt meist nicht
aus der reinen Freude im Umgang mit diesen Tänzen, sondern
eher aus prinzipiellen, heimatpflegerischen, ideologischen, gruppendynamischen
oder anderen Gründen. So gelingt es der Szene trotz öffentlicher
Präsenz nicht wirklich, neue Tänzer von Außen zu
gewinnen, obwohl das Potential von Tänzern insgesamt oder auch
nur von Tänzern, die sich mit traditionellen Tänzen im
weitesten Sinn beschäftigen recht groß ist. Der Nachwuchs
kommt überwiegend aus den eigenen Reihen.
Die oben beschriebenen Sachverhalte lassen die bewusste Rückbesinnung
und Selbstbeschränkung als einen Weg erscheinen, der in die
Sackgasse geführt hat. Bei den Gruppen, die diese Rückbesinnung
nicht so konsequent umgesetzt haben, erscheint das Tanzgeschehen
bunter und abwechslungsreicher. Wobei die Freude, beispielsweise
bei Vierpaartänzen, nicht durch die an sich lustigere Tanzform
entsteht, sondern durch das Gruppenerlebnis und den Spaß,
der entsteht, wenn der Tanz Gefahr läuft, nicht zu klappen
und spontanes Krisenmanagement der Gruppe gefragt ist, um den Tanz
zu retten.
Wenn wir die Rückbesinnung auf unsere überlieferten Paartänze
für richtig und wichtig halten, stellt sich uns die Herausforderung,
unseren Umgang mit diesen Tänzen zu überdenken. Wir müssen
beim Tanzen Freude und Befriedigung empfinden, die als einzige Begründung
und Legitimation für unser Tun ausreicht. Das einzig auf das
Tanzpaar und die Musik zu reduzierende System muss zum Funktionieren
gebracht werden, ohne ideologischen, heimatpflegerischen Hintergrund
und Überbau, ohne Schielen auf Öffentlichkeitswirksamkeit
und Bühnentauglichkeit.
Hierzu müssen wir nicht nur unser Tanzrepertoire reduzieren,
sondern die Tänze in ihre Grundtypen und Grundelemente aufbrechen,
um mit diesen Elementen im Einklang zur Musik frei und kreativ werden
zu können. Dies macht den Tanzleiter heutiger Prägung
überflüssig. Benötigt werden Tanzlehrer, die die
Tänzer zum selbstverantwortlichen Umgang mit den Tanzelementen
befähigen und ermutigen. Was für eine spannende Aufgabe!
Es müssen nicht mehr alle Tänzer im Raum über einen
Kamm geschert und auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert
werden. Jedes Paar darf auf seinem individuellen Leistungsstand
tanzen, das einen einfachen Walzergrundschritt, das andere zeitgleich
die verrücktesten spontan angepassten Ländlerfiguren.
Es wird nicht nur reproduziert, es entsteht Neues. Auf dem Tanzboden
gibt es nicht mehr richtig und falsch sondern ein vielfältiges
Nebeneinander von mehr oder weniger gelungenen Interpretationen
auf der Basis von einfachen, für jeden erlernbaren, überlieferten
Elementen. Soll doch der eine oder andere überlieferte Tanz
getanzt werden, wird kein Tanzleiter mehr benötigt. Der Tanzlehrer
organisiert aus dem Hintergrund unkommentiert das eine oder andere
beispielgebende Paar. Überlieferte Tänze kommen dorthin
wo sie hingehören, in die Region und nicht auf ein Bundesvolkstanztreffen,
wofür vorher ein Tanzprogramm erlernt werden muss. Hier entwickelt
sich gerade die Vision für ein neues, spannendes Hobby für
Jung und Alt, und ein riesiges, spannendes Betätigungsfeld
für Tanzlehrer neuen Typs. Von Langeweile, Eintönigkeit
oder gar Unterforderung kann keine Rede mehr sein.
Unsere Überlieferung ist nicht schlechter oder unattraktiver
als andernorts. Unsere Musik als Basis des Tanzes hat Kraft und
Charakter. Wir haben viele wunderschöne überlieferte Tänze,
die uns Beispiel geben, wie wir uns der Musik bedienen können.
Das einzigste Problem, wenn man es als solches sehen will, ist unser
Umgang mit den überlieferten Tanzformen. Wir dürfen sie
nicht als Gesetz, als zu bewahrendes Ideal, sondern lediglich als
Beispiel und Anregung verstehen, als Grundlage und Ausgangspunkt.
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Durch die jüngsten Ereignisse der immer schlechter besuchten
und schließlich gar nicht mehr zustande gekommenen Baden-Württembergischen
Volkstanzwoche der Heimatzunft, habe ich mich veranlasst gesehen,
die grundsätzlichen Probleme, die ich zu erkennen glaube sowie
auch meine persönlichen Wünsche und Sehnsüchte zu
präzisieren und in schriftlicher Form anderen zugänglich
zu machen. Diese Betrachtungen sind nicht eine momentane Laune,
sondern der Versuch einer Auswertung meiner Erlebnisse und Erfahrungen
der letzten Jahre (fast schon Jahrzehnte). Ich bin mir bewusst,
das ich mit meinen Thesen nahezu allen auf die Füße trete,
die sich in den letzten Jahrzehnten in diesem Bereich engagiert
haben. Wo aber, wenn nicht in der Heimatzunft, sollte Platz für
solche Überlegungen und hoffentlich auch eine lebhafte, fruchtbare
Diskussion darüber möglich sein?
Ich sehe einmal mehr die Chance und die Notwendigkeit für die
Heimatzunft, einen Schritt voraus zu gehen.
Herzlichst
Ihr
Sigmar Gothe
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