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Wulf Wager
"Trink, trink, Siederlein trink..."
In den katholischen Gegenden Baden-Württembergs bildet die
Fasnacht eine Art Überdruckventil, um wenigstens einmal in
Jahr die Konventionen des braven Bürgertums sprengen zu können.
Tanz, Musik und vor allem auch das Trinken spielen eine überdimensionierte
Rolle. In protestantischen Städten ist das anders. Hier sucht
sich die "Hoffahrt" an anderer Stelle des Jahres ein Ventil.
Das Schwäbisch Haller Siederfest, das die Nachfahren der reichsstädtischen
Salzsiedersfamilien alljährlich an Pfingsten zu feiern wissen,
ist ein solcher Druckausgleich. Längst spielt das Salz zwar
wirtschaftlich keine Rolle mehr. Zu folkloristischen und touristischen
Zwecken, aber auch aus innerer Verbundenheit zu ihrer Tradition
halten der "Große und der Kleine Siedershof" die
Fest- und Tanztraditionen der ehemaligen Handwerkerzunft in Ehren.
Unter dem Siedershof verstand man die berufsständische Gemeinschaft
der Haller Sieder. Die Abhaltung des Siedershofes ist der festliche
Repräsentationsbrauch der ehemals bedeutendsten Zunft, die
Schwäbisch Halls Reichtum begründete.Die Zünfte hatten
in den Städten seit dem 12. Jahrhundert Verteidigungs- und
Löschdienste zu leisten. Feuerwehren im heutigen Sinne gab
es noch nicht. Die Historie beschreibt einen Mühlenbrand, bei
dem die Sieder durch einen aus dem Dachladen der Mühle hinausfliegenden
und heftig krähenden Hahn auf ein Feuer aufmerksam wurden und
sofort Löschmaßnahmen einleiteten. Die Mühle konnte
gerettet werden, was das Verdienst der Sieder war. "Zum Andenken
an diese mutvolle Tat bewilligte hinfort der Rat der Stadt der Siederkompagnie
alljährlich Früchte zu einem Kuchen und Wein zu einem
Feste, das Siederkuchenfest oder Siedershof genannt wurde, mit der
Bemerkung, dass sich die ledigen Siedersöhne auch künftig
bei Feuersbrünsten auszeichnen und den Feurern kräftige
Hilfe leisten sollen", so eine Beschreibung von 1908.
In mehreren historischen Festordnungen ist der Ablauf des Siederfestes
streng geregelt. Auch existieren zahlreiche, zum Teil über
zweihundert Jahre alte Aquarelle und Zeichnungen des Siederfestes,
das zunächst am Peter und Paulstag (29. Juni) abgehalten wurde,
heute aber an Pfingsten gefeiert wird. Zehntausende strömen
alljährlich nach Hall, um die Sieder auf dem Marktplatz vor
der großen Treppe der Michaelskirche und auf dem "Grasbödele",
der kleinen Insel in Mitten des Kochers tanzen zu sehen. Die roten
Trachten der Sieder und die malerische Kulisse der urbanen Skyline
Schwäbisch Halls bilden in selten authentischer Harmonie ein
schon fast kitschig anmutendes Bild gelebten Haller Selbstbewusstseins.
Der Haller Germanist und Zeitgenosse der Brüder Grimm, Friedrich
David Gräter, beschreibt 1812 die zeremoniell-getragenen "züchtigen"
Tanzschritte der jungen Siederpaare und die fast monotone Musik
der Trommler und Pfeifer als "400 bis 500" Jahre fortdauernde
Tradition. Dass das Siederfest und die Siederstänze eine lange
Tradition aufweisen ist unbestritten. Seit dem Mittelalter gab es
Siederfeste.
Bevor die rotgewandeten Sieder ihre Tänzerin, ebenfalls stilecht
in eine spätbarocke Siedertracht gekleidet und mit einem koketten
Häubchen bekränzt, mit den Worten "Ein Tänzchen
in Ehren darf niemand verwehren", zum Tanze auffordern, kreist
zuerst der kunstvolle Trinkpokal in Form eines Gockels in der Runde
der Tänzer. Der Pokal erinnert an jenes Federvieh, das den
Siedern seinerzeit zu unvergänglichem Ruhm und zu immer wiederkehrenden
Räuschen verholfen hat und auch zukünftig verhelfen wird.
Immer ist der Gockel gut mit trockenem Riesling gefüllt, wenn
die 1. Hofdame des Siedershofes den Pokal an den 1. Hofburschen
übergibt. Er setzt seinen mit bunt schillernden Hahnenfedern
verzierten Hut ab und hebt an, den ersten Trinkspruch auszubringen:
"A guter Wein isch ebbes wert.
Blos muaß mern trinka wie sichs g`hört,
net saufa, langsam muaß mer do,
mir macha des in Hall a so:
Gockel hinta hoch und vorna nunter,
no left dr wie von selber nunter"
Niemals fehlen darf nach einem Trinkspruch der obligatorische Wunsch
an alle: "Gsundheit"! Sollte mal einer diesen Zusatz vergessen,
so muss er den nächsten Wein spendieren. Wenige Trinksprüche
sind aus alter Zeit überliefert, denn während sich bei
den Tänzen, dem "Zwiebelesfisch" und dem "Trampelewalzer"
seit über 100 Jahren nichts mehr verändert hat, leben
die Trinksprüche der Sieder in einer sehr lebendigen Tradition.
Sie nehmen Aktuelles auf, formen Altes um, glossieren, parodieren,
prangern an und umschmeicheln. Jeder Sieder setzt daran, zum Brunnen-
und Kuchenfest an Pfingsten einen neuen, wenn möglich aktuellen
Trinkspruch anzubringen. Die vielen Besucher erwarten diese humoristische
Einlage schon sehnsüchtig.
"Oh Du edler Rebensaft, wie stärkst Du meine Glieder,
gestern hasch me noch en Dreck nei gschmissa,
heut drink i di scho wieder."
Oder:
" I bin der kloinste Siedersmann
und sauf solang i standa kann.
Und wenn i nemmer standa ka,
no sauf i weiter und setz mi na."
Es sind keine hochgeistigen poetischen Oden, die die Sieder vor
den kräftigen Schluck aus dem historischen Trinkgefäß
setzen. Derbe, deftige Volkspoesie, die normalerweise das mit Dunst
von Bier, Wein und Tabak verquirlte, rauchgeschwängerte Umfeld
eines Männerwirtshausstammtisches niemals verlässt. Hier
tritt die versumpfte Trinkdichtung an die Öffentlichkeit. Der
Suff, der Trieb, die Faulheit und die Frauenfeindlichkeit bilden
den Nährboden, aus dem sich immer wieder neue Sieder-Trinksprüche
entwickeln. Sie sind am Maßstab der Vernunft gemessen lächerlich.
Aber wen interessiert das schon.
"Lieber Korn im Blut, als Stroh im Kopf."
Stoische Gelassenheit spiegelt sich in Form einer Weltanschauung
im folgenden Spruch wider:
"Wenn de oin essa siehsch, na ess mit em.
Wenn da oin trinka siehsch, na trink mit em.
Wenn de oin feira siehsch, na feier mit em.
Wenn de oin schaffa siehsch, ...na lass en schaffa."
Und:
"Liaber en wackliger Wirtshaustisch, als an feschter Arbeitsplatz"
Natürlich bleiben auch die Politiker nicht ungeschoren:
"Wenn der Strauß a Sieder wär,
und dät dazu noch tanza,
käm er dem Kohl net in die Quer,
und hät au koin soan Ranza."
Oder:
"Wenn´s Schaffa koi Gschäft wär,
no dät´s der Schultes selber macha."
Oder:
"Die Politiker müsset mit de Tauba verwandt sei.
Solang se kloi send,
na fresset se ons kloine Bürger aus der Hand.
Sitze se dann drobe uff em Dach,
mit vollgfressene Kröpf,
no scheiße se ons kloine Bürger uff de Kopf."
Ein anderer:
"Liawer a wenig z´salzich als z`leis,
liawer a wenig farbich als ganz weiß,
liawer a Jüngere als a Hutzel,
liawer a Saubere als a Butzel,
liawer zwa Schoppa als blos oan,
un liawer noch an saura als koan
liwaer in Hall, und an weng a Bleeder,
als in Berlin an Volksvertreter."
Die Sprüche sind zugleich politische Protestnote und Ausdruck
eines bestimmten Lebensgefühls.
Die Beziehung zum anderen Geschlecht spielt eine fast so wichtige
Rolle wie das Verhältnis zum Wein:
"Oiner alloi, isch net schee.
Oine alloi isch au net schee.
Aber oine und oiner, und dann alloi,
des isch schee."
"A wiaschts Weib isch dr beschte Zau´ums Haus."
"Aus manchem junga Engel wird an alter Deifel."
"Wenn Du zu gutem Freunde kommst,
sagst em halt an Gruß,
doch wenn´d a sauberes Madle siesch,
no gib ihr no en Kuss."
Der Wein und die Folgen des ungehemmten Genusses sind fast das zentrale
Thema der Siedersprüche:
"So lang mir diese Tropfen schmecken,
kann mich der Arzt am Arsche lecken."
"Trinke nie ein Glas zu wenig,
denn kein Pfarrer und kein König,
kann von diesem Schwerverbrechen
eine Seele ledig sprechen.
Lieber eins zuviel getrunken,
etwas schwer ins Bett gesunken
und darauf in stiller Kammer
Buße tun am Katzenjammer."
"Alter Wei und junge Weiber sind die beschte Zeitvertreiber."
Die Logik taucht in den Sieder-Trinksprüchen immer wieder in einer
ganz eigenen hällischen Art auf:
"Alkohol und Nikotin rafft die halbe Menschheit hin,
aber ohne Suff und Rauch stirbt die andere Hälfte auch."
"Sei froh und ohne Sorgen,
der Kater kommt erst am Morgen."
Auch dem Herrn bedient man sich, ohne jedoch blasphemisch zu wirken:
"Befiehl dem Herren Deine Wege
und sei ein guter Christ,
und meide schmale Stege, wenn Du besoffen bist."
Oder:
"Wer Gott und schöne Jungfern liebt,
ein jedes wie er soll,
der ist an Leib und Seel vergnügt
und geht ihm ewig wohl."
Oder:
"Dem Ochsen gibt das Wasser Kraft,
beim Menschen tut´s der Rebensaft.
Drum danke Gott als guter Christ,
dass Du kein Ochs geworden bist."
Selbst die Erinnerung an die zuhause drohende Unbill lässt
einen Sieder nicht schrecken:
"Und bist Du beim Trinken, so bleibe dabei,
man schimpft Dich um Zwölf genauso wie um Drei."
"Essat und trinkat, so langs Eich schmeckt,
denn scho zweimol isch uns s´Geld verreckt!"
Noch um waren die Trinksprüche -darf man den schriftlichen Quellen
glauben- gesitteter. Wahrscheinlich aber hat man der allgemeinen
Moral zur Folge die deftigen Trinksprüche überhaupt nicht
publiziert. Damals hieß es zum Beispiel:
"Es leb´ ein treues Herz, dem guten Freund hold;
Denn dieses halte ich weit köstlicher als Gold."
Oder:
"Und wenn denn ein Tröpflein Blut, Freundin,
dir ungetreu,
so sprenge dieser Trunk das falsche Herz entzwei."
Weiter:
"Wir trinken allen schönen Augen,
die zum Lieben taugen,
und doch nicht von Herzen,
leicht mit andern scherzen."
Heute sind die Sprüche teils frech, derb und deftig. Aktueller
Zynismus und bitterer Spott finden immer wieder in den Trinksprüchen
der Sieder Ausdruck:
"Ob Bisamratte oder Maus McDonald macht an Big Mac draus."
"Die Pille ist nur falscher Zauber:
Ajax hält das Becken sauber."
"Mei Muadr backt Hutzel und bronzt dazue nei,
no bleiwas schee saftig, on trocknet net ei."
Ist der Gockel von Sieder zu Sieder einmal um den Kreis der Tänzer
gewandert finden die Trinksprüche beim 1. Hofburschen den Schluss.
"Der Gockel ging von Mund zu Mund,
gefüllt mit Wein, dem Besten,
ich mach den Schluss in dieser Rund,
der letzte Schluck den Gästen!"
Das übermäßig Trinken ist keine neue Erscheinung.
Essen, trinken und tanzen gehört in allen Kulturen zu den Festriten.
Im Zeitalter des Barock uferten die Feste der Sieder immer wieder
aus. Wegen ihrer Saufgelage waren sie bei den Stadtherren berüchtigt
und gefürchtet. Gleichwohl traute man sich ob der wirtschaftlichen
Bedeutung für die Stadt nicht, den Siedern das Fest ganz zu
untersagen. Wohl aber wehrte man sich gegen die Auswüchse.
Davon zeugen zahlreiche Ge- und Verbote in den hällischen Archiven:
"Die Sieder sollen bey den Schießen ihr übel gewohntes
Saufen bey Straf einstellen", hieß es 1675. Doch diesen
Brauch konnten alle obrigkeitlichen Verordnungen in über dreihundert
Jahren nicht abstellen. Warum auch?
"Xundheit!"
Anmerkungen
Sämtliche Trinksprüche der Schwäbisch Haller Sieder
und noch eine ganze Reihe anderer württembergischer Trinksprüche
erscheinen im September 2001 in einem Büchlein "Trinksprüche
aus Württemberg" gesammelt von Wulf Wager im DRW-Verlag
Leinfelden-Echterdingen und sind in jeder Buchhandlung unter der
ISBN 3-87181-472-5 erhältlich.
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