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Christian Schmid

Freut Euch des Lebens...



Zürich im Jahre 1792: Eine Stadt mit kaum mehr als 10'000 Einwohnern, die sich hinter hohen Mauern und Wassergräben verbergen. In der Stadt herrscht seit der Revolution von 1351, bei der Adel verjagt wurde und die Zünfte das Regiment übernahmen, eine strenge Ordnung. Der Rat der Zweihundert und die abwechslungsweise regierenden zwei Bürgermeister wachen nicht nur über die Vorherrschaft der Stadt über die sie umgebende Landschaft, sondern auch über das leibliche und sittliche Wohl ihrer Bürger. Denen ist durch Sittenmandate genau vorgeschrieben, wie sie sich zu kleiden, was auf ihrem Tisch aufgetragen werden darf und wann sie von ihren Spaziergängen ausserhalb der Stadtmauern zurückzukehren haben – wollen sie nicht das Risiko eingehen, vor den Stadttoren übernachten zu müssen.
 
In seltsamem Gegensatz zu den engen Vorschriften, die das tägliche Leben bestimmen, steht der weltoffene Geist der Zürcher Gelehrten. Da ist Bodmer, einer der Grossen der Germanistik, der für die Erforschung der mittelhochdeutschen Sprache bahnbrechend war, der als erster die Bedeutung der in Zürich entstandenen Manesse-Handschrift erkannte, im vorarlbergischen Hohenems die Nibelungen-Handschrift entdeckte, der deutschen Leserschaft Dante und Homer vermittelte und der als Gastgeber fast aller berühmten Persönlichkeiten (u.a. des jungen Dichter Klopstock, Wieland und Kleist) Europas eine offene Türe hatte. Da ist der Pfarrer Johann Caspar Lavater, bei dem Goethe zu Besuch war und dessen "Physiognomische Fragmente", übersetzt auch ins französische, englische und italienische in keiner Bibliothek der wissenschaftlich Interessierten fehlen durfte und sein Freund, der Kunstmaler Füssli, der später in London berühmt wurde. Da ist Gessner, dessen "Idyllen" in allen Salons auf den zierlichen Tischen lagen und der Gastgeber des zehnjährigen Mozart war. Aber auch Musiker wie P. Valentin Rathgeber und J.Fr. Reichardt waren zu Gast und besuchten die Proben der Zürcher Musikkollegien.
 
Viele der wohlhabenden Bürger der Stadt waren den engen Verhältnissen entflohen und hatten ausserhalb der Mauern Landhäuser gebaut, damals in freier Natur, heute muss man sie zwischen den Wohnblöcken suchen, die in der «Gründerzeit» – 100 Jahre später, in immer weiteren Kreisen die Umgebung der alten Stadt bedeckten. Leider fielen nicht wenige dieser Landhäuser auch der Bauwut zum Opfer, die in den 50er und 60er Jahren des 20.Jh. Zürich viele hässliche Geschäftsbauten bescherte.
 
Einer dieser Bürger war Salomon Landolt, welcher nach einem Leben als Landvogt und Kommandant des zürcherischen Scharfschützen-Korps sich auf einem Hügel im Süden Zürichs ein Haus gebaut hatte. (Gottfried Keller hat in der Novelle «Der Landvogt von Greifensee» Landolts erfolglose Versuche, eine Frau zu finden, glossiert). Dort beschäftigte er sich mit seiner Liebhaberei, der Malkunst. Oft hatte er dabei den Musikus Isaac Hirzel zu Gast, welcher ihm auf seiner Flöte Musik machte und während dem Malen so die Zeit vertrieb. Es scheint, dass Hirzel bei seinem Spielen sich nicht geschriebener Noten bediente, sondern aus dem Gedächtnis verschiedene Stücke kombinierte. Dabei passierte es einmal, dass er zwei Melodien abwechslungsweise spielte, die wie durch ein Wunder ideal zusammen passten.
 
Um diese Zeit muss auch der Dichter Martin Usteri dort auf Besuch geweilt haben, der eben für eine Zusammenkunft von Künstlern einen Rundgesang gedichtet hatte und auf der Suche nach einer Melodie dazu war. Er bemerkte mit Erstaunen, dass die Melodie, welche Hirzel auf seiner Flöte blies, just zu seinem Text passte.
 
Dieses Künstlerfest fand am 17. Januar 1793 im «Platanengüetli» statt, dem ehemaligen Rebhaus des Buchbinders Caspar Wilhelm Heiz. Dieses diente einer der damals aufkommenden Lesegesellschaften mit einer kleinen aufklärerischen Leihbibliothek. «Am Eingang bilden zween Platanusbäume ein hübsches Schattengewölbe», schrieb ein Zeitgenosse. Die Platane, damals für unsere Gegenden neu, war erst kurz vorher aus Nordamerika importiert worden. Diese Platanen stehen noch heute, sind inzwischen zu riesigen Bäumen herangewachsen und dürften zu den ältesten in Europa gehören.
 
Der Verfasser des Abendberichtes, der Kupferstecher Johann Heinrich Meyer schrieb: «In frohem Kreise setzten wir uns um die Tafel herum, und bey Eröffnung einiger Champagner Flaschen sang uns Herr Martin Usteri jenes holde Lied der Freude zum ersten Mahl, das nachher durch ganz Europa viele tausend Kreise zum unschuldigsten Frohsinn erhob.»
 
Dass auch heute immer noch Nägeli die Autorschaft an diesem Lied zugeschrieben wird, mag erstaunen, war es doch schon in den 30er Jahren der Zürcher Musikwissenschaftler Georg Walter, der akribisch den riesigen Nachlass Nägelis durchforschte und nach Spuren des Liedes suchte. Was er fand:
 
Die Beteiligten
 
Johann Martin Usteri (1763-1827)
Usteri ist heute nur noch als Dichter des Liedes «Aufmunterung zur Freude», mit den Anfangsworten «Freut euch des Lebens», bekannt. Als Dichter war er einer der ersten, die sich im Verfassen von Gedichten in Mundart befassten. Als Künstler hat er unzählige Zeichnungen und Skizzen verfasst, die heute unbekannt in dicken Mappen in den Archiven schlummern. Seiner Heimatstadt diente er als Stadtrat.
 
Isaac Hirzel (1756-1833)
Hirzel diente im holländischen und französischen Militär und war zuletzt Kapellmeister des Regiments von Salis in französischen Diensten. Bei Ausbruch der Revolution kehrte er nach Zürich zurück, wo er eine Knabenmusik gründete und Dirigent des Musikkorps der Zürcher Standeskompanie war. Daneben wirkte er als Musiklehrer und förderte das Zürcher Musikleben.
 
Hans Georg Nägeli (1773-18..)
Nägeli wurde 1773 als vierter Sohn des Pfarrers Hans Jakob Nägeli in Wetzikon im Zürcher Oberland geboren. 1772 war dort Pfarrer Johannes Schmidlin verstorben, welcher in seiner Gemeinde ein reiches Musikleben ins Leben gerufen hatte. 1755 hatte er eine Singgesellschaft gegründet, die sich jeweils nach dem Sonntagsgottesdienst zu den Proben versammelte und 1768 ein Musikkollegium, das die Instrumentalmusik pflegte. Ferner hatte er 1752 ein Liederbuch «Singendes und spielendes Vergnügen reiner Andacht» publiziert, welches rasch eine grosse Verbreitung fand, Lieder daraus fanden sogar im Engadin in rätoromanischer Übersetzung Eingang in handgeschriebene Liederbücher. 1768 erschienen seine «Schweizerlieder» auf Texte von Johann Caspar Lavater, die sich über die Schweiz hinaus in ganz Deutschland verbreiteten.
Neben Hans Georg Nägeli stammten auch zwei weitere Komponisten, welche das Zürcher Musikleben des ausgehenden 18. Jahrhunderts prägten, Johann Heinrich Egli und Johann Jakob Walder, aus dem selben Ort.
 
Pfr. Nägeli war nicht nur als Theologe, sondern auch als Musiker Nachfolger und so erteilte er seinem Sohn auch den ersten Unterricht, er soll schon als Achtjähriger schwierige Klaviersonaten gespielt und als Zehnjähriger in Vertretung seines Vaters hie und da das Musikkollegium geleitet haben.
 
1790 kam Nägeli nach Zürich, um sich beim Pianisten Johann David Bruenings weiterzubilden. Dieser führte ihn vor allem in die damals noch weitgehend unbekannten und kaum erhältlichen Kompositionen von J.S. Bach ein.
 
Ein Jahr darauf, als Achtzehnjähriger, eröffnete Nägeli eine Musikalienhandlung mit Leihbibliothek und 1793 einen Musikverlag, den ersten der Schweiz. Das Programm des Verlags umfasste Lieder und Instrumentalmusik für verschiedene Besetzung. Es waren vor allem zwei Editionen, welche die junge Firma in der ganzen Musikwelt bekannt machten. Die eine war eine Reihe «Repertoire des Clavecinistes», welche in 17 Heften Klaviermusik der zeitgenössischen Komponisten herausbrachte, Beethoven, Clementi, Dussek, Liste u.a. Die andere war das «Musikalisches Kunstwerk der strengen Schreibart», welche neben Händel vor allem Werke von Bach umfasste, das «Wohltemperierte Klavier», die «Kunst der Fuge», die sechs Violinsonaten mit obligatem Cembalo, die «Goldberg-Variationen», sowie die sechs Orgeltrios. Als Krönung seines Einstehens für den damals fast vergessenen Bach publizierte er 1833 als Erstdruck Kyrie und Gloria der h-moll Messe.
 
Obwohl der jung Verlag im In- und Ausland einen ausgezeichneten Ruf erworben hatte, entwickelte sich die finanzielle Situation zum Schlimmen. Es war vor allem die politische Situation – Napoleon hatte ganz Europa in seine Kriege verwickelt – welche dem Notengeschäft feindlich gesinnt war, vielleicht hatte Nägeli aber auch zuviel Energie in ideelle Publikationen und zuwenig in finanziell ergiebige gesteckt. 1813 übernahm Pfr. Hug, der hauptsächliche Geldgeber, den Verlag auf eigene Rechnung – Musik-Hug ist auch heute noch in der Schweiz die bedeutendste Firma auf diesem Gebiet.
 
Nägeli stellte hohe Ansprüche an die Musik, welche er verlegte. Das ging so weit, dass er Beethovens Klaviersonate op. 31,1 vier Takte zufügte, die ihm zu fehlen schienen. Das zog ihm allerdings den Groll des Wiener Meisters zu, der ihm fortan kein Manuskript mehr zum Verlegen schickte!
 
Mit dem 1805 gegründeten «Zürcherischen Singinstitut» legte er den Grundstein zur Chorbewegung, die über die Zeit fast jedem Ort der deutschen Schweiz seinen Männerchor bescheren sollte. Anders als sein Freund Friedrich Silcher in Tübingen war er allerdings der Auffassung, die Volkslieder seien ein minderwertiges Gesangsgut, das durch edlere Chorwerke ersetzt werden müsse. So kam es, dass in den Chorliedersammlungen, die später durch A.Heim herausgegeben und in Millionen von Exemplaren in der Schweiz und Deutschland verbreitet wurden, wohl deutsche Volkslieder in Sätzen von Silcher, aber kein einziges Schweizer Volkslied zu finden sind.
 
Etwas überspitzt muss deshalb Nägeli, dem der Ehrentitel «Sängervater» verliehen wurde, auch der weniger vornehme eines «Totengräbers des Volksliedes» gegeben werden.
 
Nägeli war auch politisch aktiv: Als Mitglied des Kantonsparlamentes und als Erziehungsrat hat er sich immer vehement für die Verbesserung der schulischen Verhältnisse eingesetzt.
 
Aber zurück zu Nägelis Verlag: Seine Rolle war hauptsächlich die des «Multiplikators», wie wir heute sagen würden, denn sein erstes verlegte Werk war auch darain bestimmt, das bekannteste seines Verlages zu werden, das Lied «Aufmunterung zur Freude» mit dem Anfang «Freut euch des Lebens...»
 
Das Zusammensetzspiel
 
Sowohl Text wie auch Melodie von «Freut euch des Lebens» hatten ihre Vorbilder. Es war aber das perfekte Zusammenpassen der einzelnen Teile, die dem Lied seinen Erfolg sicherten.
 
Der Text:
 
Unter den Klavierliedern Nägelis, die er nie zum Druck freigab, findet sich eine kleine Komposition «Ermunterung zu Freude» auf einen Text von Johann Gaudenz von Salis (1762 - 1834). Dieser Dichter, welcher heute noch durch sein Herbstlied «Bunt sind schon die Wälder» und durch das Heimwehlied «Traute Heimat meiner Lieben» (gedichtet vermutlich aus eigenem Erleben während seiner Dienstzeit als Offizier der Schweizergarde in Paris) bekannt ist. Von Salis hat diesen Text als eines seiner ersten Gedichte geschrieben, es erschien 1781 in der Sammlung «Schweizerische Blumenlese» und 1789, vertont durch G.C.Claudius in Eglis «Musikalischer Blumenlese». Es ist aber auffällig, dass Salis es nicht in die Sammlung seiner Gedichte aufgenommen hat, die 1793 in Zürich erschien. Es mag sein, dass Salis damals schon das Gedicht von Usteri gekannt hat und sich scheute, damit in Konkurrenz zu treten. Die Motive der Dichtung (Rose, Veilchen, Freundschaft) wurden in dieser Zeit gerne verwendet, vgl. das Gedicht von Gleim:
 
Rosen pflücke, Rosen blühn
Morgen ist nicht heut.
Keine Stunde lass entfliehn,
Flüchtig ist die Zeit.
 
Aber die Übereinstimmung der Dichtung Salis' mit der Usteris lässt darauf schliessen, dass dieser die ältere Dichtung Salis' gekannt hat.
 
Verschiedene Umstände lassen vermuten, dass Nägeli seine Komposition in der Zeit 1793/1794 verfasst hat, als er die Publikation von «Freut euch des Lebens» plante und dass er diese dann nicht veröffentlicht hat, um damit nicht in Konkurrenz zu treten.
 
Die Melodie
 
Wie schon oben erwähnt, hatte der Musicus Isaac Hirzel aus zwei bekannten Melodiestücken die Melodie zusammengesetzt, die dann für den Text Usteris benützt wurde. Wir verdanken diese Mitteilung dem Zürcher Schriftsteller David Hess in dessen Lebenslauf von Salomon Landolt. Hess nennt auch die Quellen der Melodieteile: Der erste Teil stamme aus einem Flötenkonzert «von Graf», der zweite Teil aus einem Violinkonzert von Borghi. Während der zweite Teil 1876 vom damaligen Leiter der musikalischen Abteilung der Münchener Hof- und Staatsbibliothek, Julius Joseph Maier, im Rondo eines in München vorhandenen Violinkonzertes von Borghi nachgewiesen werden konnte, ist die Herkunft des ersten Teils noch unsicher. In den Notenbeständen der alten Zürcher Musikkollegien findet man Werke von zwei Komponisten mit dem Namen Graf.
 
Welcher «Graf» war nun das, welchem die Erfindung des ersten Teils zugeschrieben wurde? Dies ist nicht so einfach festzustellen, denn Johann Graf, Kapellmeister am Hof in Rudolstatt, hatte sechs Söhne, welche alle Musiker waren! Einer davon, Friedrich Leopold, lebte von 1758 bis zu seinem Tod 1784 in Zürich, wo er Leiter der «Musikgesellschaft zum Musiksaal» war. Aber vermutlich war damit sein Bruder Friedrich Hartmann Graf (1727-1795) gemeint, der als Flötenvirtuose durch ganz Europa zog und zuletzt in Augsburg wirkte. Ein «magerer Komponist von Flötenkonzerten» nennt ihn Mozart in einem Brief aus Ausburg (14. Oktober 1777). Freilich wurde ein Flötenkonzert mit dem betr. Motiv bis jetzt nicht gefunden.
 
Aber auch um die Herkunft des zweiten Teils der Melodie gibt es noch Ungereimtes. So schrieb 70 Jahre später der in Frankfurt a.M. wirkende Luzerner Komponist F.X.Schnyder von Wartensee an den Sohn Nägelis: «Übrigens ist in demselben [in «Freut euch des Lebens»] doch ein Plagiat enthalten und ist z.T. wie mir dessen Verfasser einst sagte, einem Rondo von Pleyel entlehnt». Schon in der Leipziger Allg. Musikzeitung vom 12.Nov. 1800 schreibt K.Spazier von der «Entlehnung aus einem Pleyelschen Rondo». Gegen die Herkunft von Pleyel gibt es aber ein schlagendes Argument: Dieser Komponist hat über «Freut euch des Lebens» Klaviervariationen geschrieben, betitelt «Air Suisse, varié par Pleyel» – hätte er die Melodie komponiert, hätte er dies sicher erwähnt!
 
Unter den Manuskripten im Nachlass Nägelis findet sich auch ein Lied seines Landsmanns J.J.Walder – «Lied der Hoffnung» eine Komposition auf die Herdersche Übersetzung eines italienischen Liedes.
 
Anfangs- und Schlusstakte des ersten Teils entsprechen nahezu jenen des «Freut euch des Lebens», wenn auch die Textunterlegung viel weniger glücklich ist. Da Walder das Lied erst 1804 drucken liess, ist eher anzunehmen, dass beide Melodien nach der selben Vorlage gebildet wurden.
 
Das Nachleben
 
In einem Schreiben (leider nicht datiert) an den Verleger F.Rellstab in Berlin lesen wir: Das Lied «Freut euch des Lebens» habe ich eigentlich nicht komponiert, sondern diese schon alte Melodie mit einigen Abänderungen dem Text, der einen hiesigen Dilettanten der Dichtkunst zum Verfasser hat, angeformt [«Dilettant» hatte damals noch nicht den abwertenden Beigeschmack wie heute, sondern bezeichnete lediglich den Nicht-Berufsmann, der seine Kunst zum «Vergnügen» ausübte, so nannte sich der italienische Komponist Tommaso Albinoni auf den Titelblättern seiner Kompositionen als «Dilettante nobile»]. Nichtsdestoweniger bin ich aber der rechtmässige Verleger davon und der Nachdruck nichts anderes als Diebstahl...
 
Wie schnell sich das Lied verbreitete, kann daraus ersehen werden, dass schon 1795 J.M.Böheim es in den dritten Teil der «Freimaurerlieder mit Melodien» aufnahm – damals schon mit der irrtümlichen Angabe von Nägeli als Verfasser. Dieser schrieb ihm am 30. Juni 1796: «Bei Anlass der Freimaurerlieder muss ich Ihnen freundschaftlich anmerken, dass ich den Nachdruck, unter welcher Gestalt es auch immer sei, nie begünstige, und dass es mir besonders unangenehm ist, von meinen Kompositionen, wenn auch nur auszugsweise und sonst in ehrenvoller Gesellschaft, nachgedruckt zu sehen. Diese Bemerkung gilt aber hauptsächlich für die Zukunft.» Nägeli deutet im letzten Zusatz leise an, dass es sich beim Lied nicht um eine Komposition von ihm handelt, drückt es aber nicht deutlich aus.
 
Es ist nicht ganz geklärt, wann genau der Erstdruck erschien. Vermutlich am 31. Mai 1794 schrieb Nägeli an den Buchdrucker Wilhelm Haas Sohn in Basel: «Ich weiss, dass sie im Stand sind, mir die schönsten Editionen zu liefern, und deswegen wende ich mich hiermit an Sie, Ich wünsche mit dem Lied: 'Freut euch des Lebens' den Anfang zu machen, und daher bitte ich Sie, mir zu melden, um welchen Preis Sie mir 1000 Ex. in möglichster Geschwindigkeit zu liefern [vermögen], damit ich dieselben sogleich durch ganz Deutschland zur Probe senden kann.»
Am 9. August dankte Nägeli dem Drucker für die Übersendung der Liedblätter, und am 3. September kündigt er in einem Brief an Breitkopf & Härtel in Leipzig eine Sendung von 100 Exemplaren des Liedes «Freut euch des Lebens» an.
 
Das Lied muss in Zürich rasch bekannt geworden sein, im Juli 1794 machte das «Musikkollegium vom Musiksaal», dem Nägeli angehörte, eine Seefahrt auf dem Zürichsee, und als sich der Nachen dem Ufer näherte, sangen die Gesellschafter mit Blasmusikbegleitung unter dem Jubel der dort wartenden Menge das Lied, wie es Nägeli seinem Jugendfreund H.J.Horner in einem Brief schilderte.
 
Auch in Deutschland machte das Lied rasch die Runde, wo der Text – der Erstdruck nannte weder Autor noch Komponist – keinem geringeren als Goethe zugeschrieben wurde! Frau Rath Goethe schrieb ihrem Sohn zwei Jahre nach Entstehung des Liedes "Ich besorge meine kleine Wirtschaft und singe 'Freut euch des Lebens' ". Hoffmann von Fallersleben erinnerte sich in seiner Autobiographie, dass er das Lied im Elternhause gehört hatte. In England sang man:
 
Life let us cherish, while yet the taper glows,
And the fresh flow'ret pluck ere it close;
Why are we fond of toil and care?
Why choose the rankling thorn to wear?.....
 
Ob es schon die Römer gesungen haben, ist eher unwahrscheinlich, dennoch existiert auch eine lateinische Version: Vita dum floret...
 
Und auch in fast allen anderen Sprachen Europas war es bekannt.
 
In der Literatur wird das Lied an einigen Stellen zitiert, z.B. bei Ivan Turgenieff in «Faust - Eine Erzählung in 9 Briefen»
Es blieb auch nicht aus, dass die Melodie von anderen Komponisten aufgenommen wurde: Rossini verwendete sie für seine «Solfège» und auch in der Ouverture der Oper «Semiramis» kehrt sie wieder. Fürst Metternich, so geht die Sage, habe die Melodie Rossini vorgesungen. Ein heute unbekannter Konponist namens Matthias Segmüller verwendete sie in der Ouverture zu seinem Singspiel «Die Familie Pumpernickel» und auch in der «Aida» von Verdi sind Anklänge zu hören.
 
Vermutlich ist der Text der meist parodierte. z.B. in dem bekannten Kalauer:
 
Freut euch des Lebens! Grossmutter wird mit der Sense rasiert;
Alles vergebens! Sie war nicht eingeschmiert.
 
wurde der Text auch politisch umgemünzt, so in einer Nachdichtung «Neujahrslied für alle Deutschen für 1845» von Hoffmann von Fallersleben:
 
Freut euch des Lebens...
Wir wollen lieben Gottes Wort,
Weib, Kind und Eltern immerfort,
Mag auch die märk'sche Ritterschaft
Mehr lieben ihren König...
Und so geht es weiter und schliesst
Gott sei uns gnädig immerdar!
Gott schenk' ein frohes Neues Jahr
Auch dem, der für das Vaterland
In Bann und Kerker schmachtet!
 
Ein anderes Beispiel ist das Lied-Flugblatt aus Strassburg «Republick von 1848, 24. Februar»
 
Freut euch des Lebens
Weil jetzt die Freiheit blüht,
Weil die Cocarde
Dreyfarbig glüht.....
 
1824 wurde in Erfurt ein Liederbuch gedruckt: «Der lustige Cantor oder Neues Gesangbuch für fröhliche Gesellschaften» Auf dem Bild des Titelblattes ist der Kantor abgebildet, welcher mittels eines langen Zeigestockes das auf der Wandtafel stehende «Freut euch des Lebens» einer bunt gemischten Sängerrunde beibringt.
 
Als Kuriosum soll noch ein Abstecher ins Jahr 1936 gemacht werden: Damals wurde das Radio der Staatspropaganda dienstbar gemacht und die Aktion Volksempfänger wurde durch die Hörerzeitschrift «Funk-Express» unterstützt. Darin war im Frühsommer 1936 zu lesen, in Trossingen sei am 23. Mai die Volkssender-Aktion «Freut euch des Lebens» eröffnet worden. «Unter grossem Jubel wurde dabei die Titelmelodie des bekannten Schwäbischen Tondichters Hans Georg Nägeli zum künftigen Kenn- und Pausenzeichen des deutschen Volkssenders bestimmt ...»
Eine Mitteilung, die in der Zürcher Presse ungnädig aufgenommen wurde...
 
Was war wohl der Grund für den Erfolg des Liedes? Die Freude wird hier nicht wie bei Schiller und Beethoven überschäumend als «Götterfunken» gepriesen, sondern in einem Bekenntnis zur Herzensgüte, Bescheidenheit und Geduld, Tugenden, welche besonders im Biedermeier hoch geschätzt wurden. Nicht umsonst wurde das Lied auch als «Marseillaise des Biedermeiers» bezeichnet. Und in jenen Tagen, die politisch durch das Elend der Napoleonischen und den Gesinnungsterror der Metternich'schen Zeit geprägt waren, konnten die Menschen wohl eine «Aufmunterung zur Freude» brauchen!
 

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