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Christian Schmid
Freut Euch des Lebens...
Zürich im Jahre 1792: Eine Stadt mit kaum mehr als 10'000 Einwohnern,
die sich hinter hohen Mauern und Wassergräben verbergen. In
der Stadt herrscht seit der Revolution von 1351, bei der Adel verjagt
wurde und die Zünfte das Regiment übernahmen, eine strenge
Ordnung. Der Rat der Zweihundert und die abwechslungsweise regierenden
zwei Bürgermeister wachen nicht nur über die Vorherrschaft
der Stadt über die sie umgebende Landschaft, sondern auch über
das leibliche und sittliche Wohl ihrer Bürger. Denen ist durch
Sittenmandate genau vorgeschrieben, wie sie sich zu kleiden, was
auf ihrem Tisch aufgetragen werden darf und wann sie von ihren Spaziergängen
ausserhalb der Stadtmauern zurückzukehren haben wollen
sie nicht das Risiko eingehen, vor den Stadttoren übernachten
zu müssen.
In seltsamem Gegensatz zu den engen Vorschriften, die das tägliche
Leben bestimmen, steht der weltoffene Geist der Zürcher Gelehrten.
Da ist Bodmer, einer der Grossen der Germanistik, der für die
Erforschung der mittelhochdeutschen Sprache bahnbrechend war, der
als erster die Bedeutung der in Zürich entstandenen Manesse-Handschrift
erkannte, im vorarlbergischen Hohenems die Nibelungen-Handschrift
entdeckte, der deutschen Leserschaft Dante und Homer vermittelte
und der als Gastgeber fast aller berühmten Persönlichkeiten
(u.a. des jungen Dichter Klopstock, Wieland und Kleist) Europas
eine offene Türe hatte. Da ist der Pfarrer Johann Caspar Lavater,
bei dem Goethe zu Besuch war und dessen "Physiognomische Fragmente",
übersetzt auch ins französische, englische und italienische
in keiner Bibliothek der wissenschaftlich Interessierten fehlen
durfte und sein Freund, der Kunstmaler Füssli, der später
in London berühmt wurde. Da ist Gessner, dessen "Idyllen"
in allen Salons auf den zierlichen Tischen lagen und der Gastgeber
des zehnjährigen Mozart war. Aber auch Musiker wie P. Valentin
Rathgeber und J.Fr. Reichardt waren zu Gast und besuchten die Proben
der Zürcher Musikkollegien.
Viele der wohlhabenden Bürger der Stadt waren den engen Verhältnissen
entflohen und hatten ausserhalb der Mauern Landhäuser gebaut,
damals in freier Natur, heute muss man sie zwischen den Wohnblöcken
suchen, die in der «Gründerzeit» 100 Jahre
später, in immer weiteren Kreisen die Umgebung der alten Stadt
bedeckten. Leider fielen nicht wenige dieser Landhäuser auch
der Bauwut zum Opfer, die in den 50er und 60er Jahren des 20.Jh.
Zürich viele hässliche Geschäftsbauten bescherte.
Einer dieser Bürger war Salomon Landolt, welcher nach einem
Leben als Landvogt und Kommandant des zürcherischen Scharfschützen-Korps
sich auf einem Hügel im Süden Zürichs ein Haus gebaut
hatte. (Gottfried Keller hat in der Novelle «Der Landvogt
von Greifensee» Landolts erfolglose Versuche, eine Frau zu
finden, glossiert). Dort beschäftigte er sich mit seiner Liebhaberei,
der Malkunst. Oft hatte er dabei den Musikus Isaac Hirzel zu Gast,
welcher ihm auf seiner Flöte Musik machte und während
dem Malen so die Zeit vertrieb. Es scheint, dass Hirzel bei seinem
Spielen sich nicht geschriebener Noten bediente, sondern aus dem
Gedächtnis verschiedene Stücke kombinierte. Dabei passierte
es einmal, dass er zwei Melodien abwechslungsweise spielte, die
wie durch ein Wunder ideal zusammen passten.
Um diese Zeit muss auch der Dichter Martin Usteri dort auf Besuch
geweilt haben, der eben für eine Zusammenkunft von Künstlern
einen Rundgesang gedichtet hatte und auf der Suche nach einer Melodie
dazu war. Er bemerkte mit Erstaunen, dass die Melodie, welche Hirzel
auf seiner Flöte blies, just zu seinem Text passte.
Dieses Künstlerfest fand am 17. Januar 1793 im «Platanengüetli»
statt, dem ehemaligen Rebhaus des Buchbinders Caspar Wilhelm Heiz.
Dieses diente einer der damals aufkommenden Lesegesellschaften mit
einer kleinen aufklärerischen Leihbibliothek. «Am Eingang
bilden zween Platanusbäume ein hübsches Schattengewölbe»,
schrieb ein Zeitgenosse. Die Platane, damals für unsere Gegenden
neu, war erst kurz vorher aus Nordamerika importiert worden. Diese
Platanen stehen noch heute, sind inzwischen zu riesigen Bäumen
herangewachsen und dürften zu den ältesten in Europa gehören.
Der Verfasser des Abendberichtes, der Kupferstecher Johann Heinrich
Meyer schrieb: «In frohem Kreise setzten wir uns um die Tafel
herum, und bey Eröffnung einiger Champagner Flaschen sang uns
Herr Martin Usteri jenes holde Lied der Freude zum ersten Mahl,
das nachher durch ganz Europa viele tausend Kreise zum unschuldigsten
Frohsinn erhob.»
Dass auch heute immer noch Nägeli die Autorschaft an diesem
Lied zugeschrieben wird, mag erstaunen, war es doch schon in den
30er Jahren der Zürcher Musikwissenschaftler Georg Walter,
der akribisch den riesigen Nachlass Nägelis durchforschte und
nach Spuren des Liedes suchte. Was er fand:
Die Beteiligten
Johann Martin Usteri (1763-1827)
Usteri ist heute nur noch als Dichter des Liedes «Aufmunterung
zur Freude», mit den Anfangsworten «Freut euch des Lebens»,
bekannt. Als Dichter war er einer der ersten, die sich im Verfassen
von Gedichten in Mundart befassten. Als Künstler hat er unzählige
Zeichnungen und Skizzen verfasst, die heute unbekannt in dicken
Mappen in den Archiven schlummern. Seiner Heimatstadt diente er
als Stadtrat.
Isaac Hirzel (1756-1833)
Hirzel diente im holländischen und französischen Militär
und war zuletzt Kapellmeister des Regiments von Salis in französischen
Diensten. Bei Ausbruch der Revolution kehrte er nach Zürich
zurück, wo er eine Knabenmusik gründete und Dirigent des
Musikkorps der Zürcher Standeskompanie war. Daneben wirkte
er als Musiklehrer und förderte das Zürcher Musikleben.
Hans Georg Nägeli (1773-18..)
Nägeli wurde 1773 als vierter Sohn des Pfarrers Hans Jakob
Nägeli in Wetzikon im Zürcher Oberland geboren. 1772 war
dort Pfarrer Johannes Schmidlin verstorben, welcher in seiner Gemeinde
ein reiches Musikleben ins Leben gerufen hatte. 1755 hatte er eine
Singgesellschaft gegründet, die sich jeweils nach dem Sonntagsgottesdienst
zu den Proben versammelte und 1768 ein Musikkollegium, das die Instrumentalmusik
pflegte. Ferner hatte er 1752 ein Liederbuch «Singendes und
spielendes Vergnügen reiner Andacht» publiziert, welches
rasch eine grosse Verbreitung fand, Lieder daraus fanden sogar im
Engadin in rätoromanischer Übersetzung Eingang in handgeschriebene
Liederbücher. 1768 erschienen seine «Schweizerlieder»
auf Texte von Johann Caspar Lavater, die sich über die Schweiz
hinaus in ganz Deutschland verbreiteten.
Neben Hans Georg Nägeli stammten auch zwei weitere Komponisten,
welche das Zürcher Musikleben des ausgehenden 18. Jahrhunderts
prägten, Johann Heinrich Egli und Johann Jakob Walder, aus
dem selben Ort.
Pfr. Nägeli war nicht nur als Theologe, sondern auch als Musiker
Nachfolger und so erteilte er seinem Sohn auch den ersten Unterricht,
er soll schon als Achtjähriger schwierige Klaviersonaten gespielt
und als Zehnjähriger in Vertretung seines Vaters hie und da
das Musikkollegium geleitet haben.
1790 kam Nägeli nach Zürich, um sich beim Pianisten Johann
David Bruenings weiterzubilden. Dieser führte ihn vor allem
in die damals noch weitgehend unbekannten und kaum erhältlichen
Kompositionen von J.S. Bach ein.
Ein Jahr darauf, als Achtzehnjähriger, eröffnete Nägeli
eine Musikalienhandlung mit Leihbibliothek und 1793 einen Musikverlag,
den ersten der Schweiz. Das Programm des Verlags umfasste Lieder
und Instrumentalmusik für verschiedene Besetzung. Es waren
vor allem zwei Editionen, welche die junge Firma in der ganzen Musikwelt
bekannt machten. Die eine war eine Reihe «Repertoire des Clavecinistes»,
welche in 17 Heften Klaviermusik der zeitgenössischen Komponisten
herausbrachte, Beethoven, Clementi, Dussek, Liste u.a. Die andere
war das «Musikalisches Kunstwerk der strengen Schreibart»,
welche neben Händel vor allem Werke von Bach umfasste, das
«Wohltemperierte Klavier», die «Kunst der Fuge»,
die sechs Violinsonaten mit obligatem Cembalo, die «Goldberg-Variationen»,
sowie die sechs Orgeltrios. Als Krönung seines Einstehens für
den damals fast vergessenen Bach publizierte er 1833 als Erstdruck
Kyrie und Gloria der h-moll Messe.
Obwohl der jung Verlag im In- und Ausland einen ausgezeichneten
Ruf erworben hatte, entwickelte sich die finanzielle Situation zum
Schlimmen. Es war vor allem die politische Situation Napoleon
hatte ganz Europa in seine Kriege verwickelt welche dem Notengeschäft
feindlich gesinnt war, vielleicht hatte Nägeli aber auch zuviel
Energie in ideelle Publikationen und zuwenig in finanziell ergiebige
gesteckt. 1813 übernahm Pfr. Hug, der hauptsächliche Geldgeber,
den Verlag auf eigene Rechnung Musik-Hug ist auch heute noch
in der Schweiz die bedeutendste Firma auf diesem Gebiet.
Nägeli stellte hohe Ansprüche an die Musik, welche er
verlegte. Das ging so weit, dass er Beethovens Klaviersonate op.
31,1 vier Takte zufügte, die ihm zu fehlen schienen. Das zog
ihm allerdings den Groll des Wiener Meisters zu, der ihm fortan
kein Manuskript mehr zum Verlegen schickte!
Mit dem 1805 gegründeten «Zürcherischen Singinstitut»
legte er den Grundstein zur Chorbewegung, die über die Zeit
fast jedem Ort der deutschen Schweiz seinen Männerchor bescheren
sollte. Anders als sein Freund Friedrich Silcher in Tübingen
war er allerdings der Auffassung, die Volkslieder seien ein minderwertiges
Gesangsgut, das durch edlere Chorwerke ersetzt werden müsse.
So kam es, dass in den Chorliedersammlungen, die später durch
A.Heim herausgegeben und in Millionen von Exemplaren in der Schweiz
und Deutschland verbreitet wurden, wohl deutsche Volkslieder in
Sätzen von Silcher, aber kein einziges Schweizer Volkslied
zu finden sind.
Etwas überspitzt muss deshalb Nägeli, dem der Ehrentitel
«Sängervater» verliehen wurde, auch der weniger
vornehme eines «Totengräbers des Volksliedes» gegeben
werden.
Nägeli war auch politisch aktiv: Als Mitglied des Kantonsparlamentes
und als Erziehungsrat hat er sich immer vehement für die Verbesserung
der schulischen Verhältnisse eingesetzt.
Aber zurück zu Nägelis Verlag: Seine Rolle war hauptsächlich
die des «Multiplikators», wie wir heute sagen würden,
denn sein erstes verlegte Werk war auch darain bestimmt, das bekannteste
seines Verlages zu werden, das Lied «Aufmunterung zur Freude»
mit dem Anfang «Freut euch des Lebens...»
Das Zusammensetzspiel
Sowohl Text wie auch Melodie von «Freut euch des Lebens»
hatten ihre Vorbilder. Es war aber das perfekte Zusammenpassen der
einzelnen Teile, die dem Lied seinen Erfolg sicherten.
Der Text:
Unter den Klavierliedern Nägelis, die er nie zum Druck freigab,
findet sich eine kleine Komposition «Ermunterung zu Freude»
auf einen Text von Johann Gaudenz von Salis (1762 - 1834). Dieser
Dichter, welcher heute noch durch sein Herbstlied «Bunt sind
schon die Wälder» und durch das Heimwehlied «Traute
Heimat meiner Lieben» (gedichtet vermutlich aus eigenem Erleben
während seiner Dienstzeit als Offizier der Schweizergarde in
Paris) bekannt ist. Von Salis hat diesen Text als eines seiner ersten
Gedichte geschrieben, es erschien 1781 in der Sammlung «Schweizerische
Blumenlese» und 1789, vertont durch G.C.Claudius in Eglis
«Musikalischer Blumenlese». Es ist aber auffällig,
dass Salis es nicht in die Sammlung seiner Gedichte aufgenommen
hat, die 1793 in Zürich erschien. Es mag sein, dass Salis damals
schon das Gedicht von Usteri gekannt hat und sich scheute, damit
in Konkurrenz zu treten. Die Motive der Dichtung (Rose, Veilchen,
Freundschaft) wurden in dieser Zeit gerne verwendet, vgl. das Gedicht
von Gleim:
Rosen pflücke, Rosen blühn
Morgen ist nicht heut.
Keine Stunde lass entfliehn,
Flüchtig ist die Zeit.
Aber die Übereinstimmung der Dichtung Salis' mit der Usteris
lässt darauf schliessen, dass dieser die ältere Dichtung
Salis' gekannt hat.
Verschiedene Umstände lassen vermuten, dass Nägeli seine
Komposition in der Zeit 1793/1794 verfasst hat, als er die Publikation
von «Freut euch des Lebens» plante und dass er diese
dann nicht veröffentlicht hat, um damit nicht in Konkurrenz
zu treten.
Die Melodie
Wie schon oben erwähnt, hatte der Musicus Isaac Hirzel aus
zwei bekannten Melodiestücken die Melodie zusammengesetzt,
die dann für den Text Usteris benützt wurde. Wir verdanken
diese Mitteilung dem Zürcher Schriftsteller David Hess in dessen
Lebenslauf von Salomon Landolt. Hess nennt auch die Quellen der
Melodieteile: Der erste Teil stamme aus einem Flötenkonzert
«von Graf», der zweite Teil aus einem Violinkonzert
von Borghi. Während der zweite Teil 1876 vom damaligen Leiter
der musikalischen Abteilung der Münchener Hof- und Staatsbibliothek,
Julius Joseph Maier, im Rondo eines in München vorhandenen
Violinkonzertes von Borghi nachgewiesen werden konnte, ist die Herkunft
des ersten Teils noch unsicher. In den Notenbeständen der alten
Zürcher Musikkollegien findet man Werke von zwei Komponisten
mit dem Namen Graf.
Welcher «Graf» war nun das, welchem die Erfindung des
ersten Teils zugeschrieben wurde? Dies ist nicht so einfach festzustellen,
denn Johann Graf, Kapellmeister am Hof in Rudolstatt, hatte sechs
Söhne, welche alle Musiker waren! Einer davon, Friedrich Leopold,
lebte von 1758 bis zu seinem Tod 1784 in Zürich, wo er Leiter
der «Musikgesellschaft zum Musiksaal» war. Aber vermutlich
war damit sein Bruder Friedrich Hartmann Graf (1727-1795) gemeint,
der als Flötenvirtuose durch ganz Europa zog und zuletzt in
Augsburg wirkte. Ein «magerer Komponist von Flötenkonzerten»
nennt ihn Mozart in einem Brief aus Ausburg (14. Oktober 1777).
Freilich wurde ein Flötenkonzert mit dem betr. Motiv bis jetzt
nicht gefunden.
Aber auch um die Herkunft des zweiten Teils der Melodie gibt es
noch Ungereimtes. So schrieb 70 Jahre später der in Frankfurt
a.M. wirkende Luzerner Komponist F.X.Schnyder von Wartensee an den
Sohn Nägelis: «Übrigens ist in demselben [in «Freut
euch des Lebens»] doch ein Plagiat enthalten und ist z.T.
wie mir dessen Verfasser einst sagte, einem Rondo von Pleyel entlehnt».
Schon in der Leipziger Allg. Musikzeitung vom 12.Nov. 1800 schreibt
K.Spazier von der «Entlehnung aus einem Pleyelschen Rondo».
Gegen die Herkunft von Pleyel gibt es aber ein schlagendes Argument:
Dieser Komponist hat über «Freut euch des Lebens»
Klaviervariationen geschrieben, betitelt «Air Suisse, varié
par Pleyel» hätte er die Melodie komponiert, hätte
er dies sicher erwähnt!
Unter den Manuskripten im Nachlass Nägelis findet sich auch
ein Lied seines Landsmanns J.J.Walder «Lied der Hoffnung»
eine Komposition auf die Herdersche Übersetzung eines italienischen
Liedes.
Anfangs- und Schlusstakte des ersten Teils entsprechen nahezu jenen
des «Freut euch des Lebens», wenn auch die Textunterlegung
viel weniger glücklich ist. Da Walder das Lied erst 1804 drucken
liess, ist eher anzunehmen, dass beide Melodien nach der selben
Vorlage gebildet wurden.
Das Nachleben
In einem Schreiben (leider nicht datiert) an den Verleger F.Rellstab
in Berlin lesen wir: Das Lied «Freut euch des Lebens»
habe ich eigentlich nicht komponiert, sondern diese schon alte Melodie
mit einigen Abänderungen dem Text, der einen hiesigen Dilettanten
der Dichtkunst zum Verfasser hat, angeformt [«Dilettant»
hatte damals noch nicht den abwertenden Beigeschmack wie heute,
sondern bezeichnete lediglich den Nicht-Berufsmann, der seine Kunst
zum «Vergnügen» ausübte, so nannte sich der
italienische Komponist Tommaso Albinoni auf den Titelblättern
seiner Kompositionen als «Dilettante nobile»]. Nichtsdestoweniger
bin ich aber der rechtmässige Verleger davon und der Nachdruck
nichts anderes als Diebstahl...
Wie schnell sich das Lied verbreitete, kann daraus ersehen werden,
dass schon 1795 J.M.Böheim es in den dritten Teil der «Freimaurerlieder
mit Melodien» aufnahm damals schon mit der irrtümlichen
Angabe von Nägeli als Verfasser. Dieser schrieb ihm am 30.
Juni 1796: «Bei Anlass der Freimaurerlieder muss ich Ihnen
freundschaftlich anmerken, dass ich den Nachdruck, unter welcher
Gestalt es auch immer sei, nie begünstige, und dass es mir
besonders unangenehm ist, von meinen Kompositionen, wenn auch nur
auszugsweise und sonst in ehrenvoller Gesellschaft, nachgedruckt
zu sehen. Diese Bemerkung gilt aber hauptsächlich für
die Zukunft.» Nägeli deutet im letzten Zusatz leise an,
dass es sich beim Lied nicht um eine Komposition von ihm handelt,
drückt es aber nicht deutlich aus.
Es ist nicht ganz geklärt, wann genau der Erstdruck erschien.
Vermutlich am 31. Mai 1794 schrieb Nägeli an den Buchdrucker
Wilhelm Haas Sohn in Basel: «Ich weiss, dass sie im Stand
sind, mir die schönsten Editionen zu liefern, und deswegen
wende ich mich hiermit an Sie, Ich wünsche mit dem Lied: 'Freut
euch des Lebens' den Anfang zu machen, und daher bitte ich Sie,
mir zu melden, um welchen Preis Sie mir 1000 Ex. in möglichster
Geschwindigkeit zu liefern [vermögen], damit ich dieselben
sogleich durch ganz Deutschland zur Probe senden kann.»
Am 9. August dankte Nägeli dem Drucker für die Übersendung
der Liedblätter, und am 3. September kündigt er in einem
Brief an Breitkopf & Härtel in Leipzig eine Sendung von
100 Exemplaren des Liedes «Freut euch des Lebens» an.
Das Lied muss in Zürich rasch bekannt geworden sein, im Juli
1794 machte das «Musikkollegium vom Musiksaal», dem
Nägeli angehörte, eine Seefahrt auf dem Zürichsee,
und als sich der Nachen dem Ufer näherte, sangen die Gesellschafter
mit Blasmusikbegleitung unter dem Jubel der dort wartenden Menge
das Lied, wie es Nägeli seinem Jugendfreund H.J.Horner in einem
Brief schilderte.
Auch in Deutschland machte das Lied rasch die Runde, wo der Text
der Erstdruck nannte weder Autor noch Komponist keinem
geringeren als Goethe zugeschrieben wurde! Frau Rath Goethe schrieb
ihrem Sohn zwei Jahre nach Entstehung des Liedes "Ich besorge
meine kleine Wirtschaft und singe 'Freut euch des Lebens' ".
Hoffmann von Fallersleben erinnerte sich in seiner Autobiographie,
dass er das Lied im Elternhause gehört hatte. In England sang
man:
Life let us cherish, while yet the taper glows,
And the fresh flow'ret pluck ere it close;
Why are we fond of toil and care?
Why choose the rankling thorn to wear?.....
Ob es schon die Römer gesungen haben, ist eher unwahrscheinlich,
dennoch existiert auch eine lateinische Version: Vita dum floret...
Und auch in fast allen anderen Sprachen Europas war es bekannt.
In der Literatur wird das Lied an einigen Stellen zitiert, z.B.
bei Ivan Turgenieff in «Faust - Eine Erzählung in 9 Briefen»
Es blieb auch nicht aus, dass die Melodie von anderen Komponisten
aufgenommen wurde: Rossini verwendete sie für seine «Solfège»
und auch in der Ouverture der Oper «Semiramis» kehrt
sie wieder. Fürst Metternich, so geht die Sage, habe die Melodie
Rossini vorgesungen. Ein heute unbekannter Konponist namens Matthias
Segmüller verwendete sie in der Ouverture zu seinem Singspiel
«Die Familie Pumpernickel» und auch in der «Aida»
von Verdi sind Anklänge zu hören.
Vermutlich ist der Text der meist parodierte. z.B. in dem bekannten
Kalauer:
Freut euch des Lebens! Grossmutter wird mit der Sense rasiert;
Alles vergebens! Sie war nicht eingeschmiert.
wurde der Text auch politisch umgemünzt, so in einer Nachdichtung
«Neujahrslied für alle Deutschen für 1845»
von Hoffmann von Fallersleben:
Freut euch des Lebens...
Wir wollen lieben Gottes Wort,
Weib, Kind und Eltern immerfort,
Mag auch die märk'sche Ritterschaft
Mehr lieben ihren König...
Und so geht es weiter und schliesst
Gott sei uns gnädig immerdar!
Gott schenk' ein frohes Neues Jahr
Auch dem, der für das Vaterland
In Bann und Kerker schmachtet!
Ein anderes Beispiel ist das Lied-Flugblatt aus Strassburg «Republick
von 1848, 24. Februar»
Freut euch des Lebens
Weil jetzt die Freiheit blüht,
Weil die Cocarde
Dreyfarbig glüht.....
1824 wurde in Erfurt ein Liederbuch gedruckt: «Der lustige
Cantor oder Neues Gesangbuch für fröhliche Gesellschaften»
Auf dem Bild des Titelblattes ist der Kantor abgebildet, welcher
mittels eines langen Zeigestockes das auf der Wandtafel stehende
«Freut euch des Lebens» einer bunt gemischten Sängerrunde
beibringt.
Als Kuriosum soll noch ein Abstecher ins Jahr 1936 gemacht werden:
Damals wurde das Radio der Staatspropaganda dienstbar gemacht und
die Aktion Volksempfänger wurde durch die Hörerzeitschrift
«Funk-Express» unterstützt. Darin war im Frühsommer
1936 zu lesen, in Trossingen sei am 23. Mai die Volkssender-Aktion
«Freut euch des Lebens» eröffnet worden. «Unter
grossem Jubel wurde dabei die Titelmelodie des bekannten Schwäbischen
Tondichters Hans Georg Nägeli zum künftigen Kenn- und
Pausenzeichen des deutschen Volkssenders bestimmt ...»
Eine Mitteilung, die in der Zürcher Presse ungnädig aufgenommen
wurde...
Was war wohl der Grund für den Erfolg des Liedes? Die Freude
wird hier nicht wie bei Schiller und Beethoven überschäumend
als «Götterfunken» gepriesen, sondern in einem
Bekenntnis zur Herzensgüte, Bescheidenheit und Geduld, Tugenden,
welche besonders im Biedermeier hoch geschätzt wurden. Nicht
umsonst wurde das Lied auch als «Marseillaise des Biedermeiers»
bezeichnet. Und in jenen Tagen, die politisch durch das Elend der
Napoleonischen und den Gesinnungsterror der Metternich'schen Zeit
geprägt waren, konnten die Menschen wohl eine «Aufmunterung
zur Freude» brauchen!
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