heimatzunft | heimatpfleger


haspel-press

Das Huhn im Lehrerzimmer

Wie AbiturientInnen ihren letzten Schultag erleben

Wenn im Lehrerzimmer unvermutet eine Hühnerschar gackert, der Kleinwagen der Referendarin auf der Eingangstreppe steht und der Hausmeister sich zum Handlanger der Schüler macht - dann verläßt wieder ein Abiturjahrgang die Schule. Vieles von dem, was jahrelang an geheimen Wünschen im Unterricht unterdrückt werden mußte, kann sich jetzt Bahn brechen. Und die meisten AbiturientInnen glauben, mit den Abi-Scherzen eine alte Tradition zu pflegen.
 
Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, dass der Abitursjahrgang lautstark und möglichst kreativ auf seinen Abschied hinweist. Schulleitung, LehrerInnen und SchülerInnen der unteren Klassen rechnen bereits fest mit der "Stürmung" des Unterrichts und anschließendem Happening auf dem Schulhof. Zu den Klassikern unter den Abi-Scherzen gehört das Verrammeln der Schule vor Unterrichtsbeginn, die Errichtung eines Hürdenparcours für die Lehrer und deren nächtliche Heimsuchung zu Hause sowie das Abhalten ironisch eingefärbter Abschieds- oder Trauerreden, in denen allen Beteiligten nochmals ihre Schwächen vorgehalten werden.
 
  Doch den Brauch, mit Abi-Scherzen das Ende der Paukerei zu feiern, gibt es in der heute üblichen Form erst seit etwa 20 Jahren. Offizielle Feierlichkeiten hingegen sind bereits seit der Einführung der "Reifeprüfung" Ende des letzten Jahrhunderts überliefert. Diese hatten aber oft einen ausgesprochen steifen Charakter und waren zudem auf die unmittelbar Betroffenen beschränkt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als auch zunehmend Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden, gesellten sich zum Gottesdienst mit anschließender feierlicher Zeugnisübergabe unterhaltsamere Formen wie der abendliche Abiball mit Tanz. Die Schülerinnen und Schüler hatten auf die Gestaltung allerdings kaum Einfluss. Ihnen wurden höchstens bestimmte Aufgaben im musikalischen Bereich oder als Festredner übertragen.
 
Mechthild Kipar, die sich in ihrem Buch "Penne ade!" wissenschaftlich mit Abitursbräuchen beschäftigt hat, liefert viele Beispiele dafür, wie sich die Form der Feierlichkeiten in unserem Jahrhundert immer wieder verändert hat. Im Gefolge der "68er"- Auseinandersetzungen wurden die überkommenen Formen des Abschieds vom Schulalltag von den SchülerInnen zunehmend als alte Zöpfe betrachtet, galten als langweilig oder gar peinlich. Boykotte der offiziellen Feierlichkeiten gab es ebenso wie teilweise rüde Attacken auf die Veranstaltungen. Auf Anfrage einer Zeitung erklärte die Schulleitung eines Gymnasiums in Münster 1969: "Zeit und Ort der Feier möchten wir nicht bekanntgeben, damit keine Störenfriede ins Haus kommen."
 
Teilweise kamen die feierlichen Rituale ganz zum Erliegen, manche SchülerInnen ließen sich ihr Abschlußzeugnis per Post zustellen. Als Grund für diese Verweigerung führt Mechthild Kipar an: "Die Abiturienten wollen sich nicht feierlich verabschieden lassen, bestenfalls verabschieden sie sich selbst." Doch dort, wo die Schulämter und Rektorate sich flexibel zeigten und den Abitursjahrgang in die Gestaltung miteinbezogen, entstand mit der Zeit eine neue Kultur der Abifeiern. So wurde die Zeugnisübergabe kurz gehalten und vom Ballast der vielen Reden befreit. Die dadurch gewonnene Zeit verwendete man lieber für einen kleinen Sektempfang. Dies hatte schon deshalb einen gewissen Reiz, weil Sekt erst in den Siebziger Jahren vom absoluten Luxusgetränk zur Massenware wurde.
 
Durch den Rückzug der Institution Schule entstand ein Freiraum, der immer mehr von den SchülerInnen besetzt wurde. Sie übernahmen die Regie der Feierlichkeiten, wenngleich es bis Anfang der Achtziger Jahre dauerte, ehe es wieder überall üblich war, im Abitur einen Anlaß für schulische Feierlichkeiten zu sehen. Dazu mußten sich auch LehrerInnen und SchulleiterInnen an neue Rollen gewöhnen. Nicht nur, dass sie jetzt häufig von den Handelnden zum Objekt der Feiern wurden, auch Späße und Anspielungen mußten sie fortan über sich ergehen lassen. Die SchülerInnen erwarteten außer Toleranz auch noch aktive Unterstützung ihres Treibens. Denn nur eine Schulleitung, die sich kooperativ zeigte und den Hausmeister zur nächtlichen Öffnung des Schulgebäudes zwecks Vorbereitung dieser Scherze veranlaßte, konnte sich sicher vor Schlimmerem fühlen.
 
Dies ging nicht immer reibungslos vor sich. Hartgesottene PaukerInnen versuchten lange Jahre, die Störungen ihrer didaktischen Höhenflüge durch Androhung von Strafen oder Aussperren der AbiturientInnen zu verhindern. Auch seitens der Jugendlichen wurde mit der neugewonnenen Freiheit nicht immer verantwortungsvoll umgegangen. Alkoholexzesse, Witze unter der Gürtellinie und Sachbeschädigungen erhitzten auch liberalere Gemüter. Doch der Vielfalt der festlichen Aktivitäten konnte kein Einhalt mehr geboten werden. Originelle Abiturzeitungen entstanden. Die Feste wurden unter ein aktuelles Motteogestellt und die AbiturientInnen bezogen zunehmend LehrerInnen, Eltern und die unteren Klassenstufen in ihr Fest mit ein. Diese Entwicklung beschreibt Mechthild Kipar als "Phase", in der sich die Abiturienten sowohl selbst auf ihre Art verabschieden als auch einer Verabschiedung von Seiten der Schule aufgeschlossen gegenüberstehen".
 
Der Abi-Scherz entwickelte sich zum festen Bestandteil der Feierlichkeiten. Heute stoßen die Vorbereitungsgruppen der AbiturientInnen auf neue Probleme. "Was sollen wir bloß machen?" steht als drohende Frage im Raum. Denn das Themenfeld Schule ist begrenzt, und schon viele Jahrgänge zuvor haben versucht, die originellsten Ideen umzusetzen. So darf man gespannt sein, ob den diesjährigen AbiturientInnen noch etwas Neues einfällt. Wehmütig erinnert eine Schülerin an die Zeit, als kleinere Aktionen noch genügten, um beim Schulleiter einen Tobsuchtsanfall zu provozieren. Sie schlägt daher eine ganz neue Aktionsform vor: "Man sollte als heutige Abiturienten die Lehrer mal total hängen lassen, indem man an dem Tag gar nichts macht. Dann stehen sie nämlich unvorbereitet da."

Seitenanfang