heimatzunft | heimatpfleger


Interview
Prof. Dr. Werner Mezger

Institut für Volkskunde der Universität Freiburg


 
Prof. Dr. Werner MezgerZur Person:
Geboren 1951 in Rottweil; Studium der Germanistik, Geschichte und Empirischen Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen. 1975 Staatsexamen und Promotion; anschließend Referendariat. Von 1977 bis 1996 Schuldienst am Gymnasium Hechingen, zuletzt als Studiendirektor und Fachberater des Oberschulamts Tübingen. Dazuhin regelmässige Lehrtätigkeit in der Volkskunde an den Universitäten Tübingen und Freiburg. 1989 Habilitation und Lehre als Privatdozent an der Universität Freiburg. Seit 1996 ordentlicher Professor für Volkskunde an der Universität Freiburg und Direktor des Freiburger Johannes-Künzig-Instituts für ostdeutsche Volkskunde.
 
Buchveröffentlichungen u.a.: Schlager (Tübingen 1975), Jugend in Trance (Heidelberg 1979), Diskokultur (Heidelberg 1980), Hofnarren im Mittelalter (Konstanz 1981), Das Gewölbe im Südschiff des Rottweiler Münsters (Rottweil 1982), Narretei und Tradition (Stuttgart 1984), Narren, Schellen und Marotten (Remscheid 1984), Rottweil von gestern (Horb 1991), Narrenidee und Fastnachtsbrauch (Konstanz 1991), Wenn die Narren Trauer tragen (Stuttgart/Ostfildern 1991), Die Bräuche der Abiturienten (Konstanz 1993), Sankt Nikolaus zwischen Kult und Klaumauk (Stuttgart/Ostfildern 1993), Fasnet in Rottweil (Stuttgart 1996). Außerdem zahlreiche Rundfunk- und Fernsehsendungen.
Mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten über Brauchtum und Folklore, insbesondere aber über die Kulturgeschichte von Fastnacht, Fasching und Karneval, hat Mezger in der internationalen Forschung Maßstäbe gesetzt und gilt heute europaweit als einer der führenden Experten auf diesem Gebiet. 1993 wurde er mit dem vom Bund Deutscher Karneval gestifteten und anläßlich dessen 40jährigen Bestehens erstmals verliehenen Kulturpreis der Deutschen Fastnacht ausgezeichnet.
Den Fernsehzuschauern ist Werner Mezger aus vielen volks- und landeskundlichen Sendungen als Autor, Kommentator und Moderator bekannt. Neben seiner Mitwirkung im "ARD-Buffet" (ARD), in der Reihe "Wie's der Brauch ist" (SWR) und in den Rückblicken "Feste und Bräuche im Jahr“ (SWR) konzipiert und gestaltet er eigene Filme und moderiert während der "Närrischen Wochen in Südwest 3" zusammen mit Sonja Schrecklein die großen Liveübertragungen von der Schwäbisch-alemannischen Fasnet.


HP: 1. Aus welcher persönlichen Motivation heraus engagieren Sie sich?
Für einen Hochschullehrer, der an der Universität Freiburg das Fach Volkskunde vertritt, ergibt sich ein kritisches Interesse an Fragen der Brauch- und Heimatpflege aus beruflichen Gründen zwangsläufig. Unabhängig davon aber engagiere ich mich auch gerne aus purer Neugier und ohne jeden dienstlichen Hintergrund auf diesem Feld. Der Umgang von Menschen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten historischen Situationen mit Festen, Bräuchen und Traditionen ist nämlich ein hochinteressanter Forschungsgegenstand, durch den wir auch viel über uns selbst erfahren können.
 
HP: 2. Wie beurteilen Sie die derzeitige Situation der Brauchtums- und Heimatpflege in Baden-Württemberg?
Da ich, abgesehen von meiner Tätigkeit im Wissenschaftlichen Beirat der Vereinigung Schwäbisch-alemannischer Narrenzünfte, keinem einschlägigen Verein oder Verband direkt angehöre, habe ich nur die Sicht von außen, die allerdings manchmal hilfreicher sein kann als eine allzu engagierte Binnenperspektive. Ich denke jedoch, daß die derzeitige Organisationsstruktur der Brauch- und Heimatpflege in Baden-Württemberg relativ gesund ist. Bei den mir persönlich bekannten Funktionsträgern - ich kenne freilich nicht alle - stehen Kompetenz und Idealismus in einem ausgewogenen Verhältnis. Schlecht wäre es, wenn Übereifer einerseits oder Besserwisserei andererseits irgendwo die Oberhand gewännen.
 
HP: 3. Welche Chancen sehen Sie in der Zukunft?
Eine Zukunft haben Bräuche und heimatliche Traditionen nur dann, wenn sie nicht bewußt vorgeführt, sondern selbstverständlich ausgeführt werden - und zwar dort, wo sie tatsächlich beheimatet sind und demnach auch hingehören. Ein "Brauchtourismus" in Maßen, wie er etwa bei überörtlichen Narrentreffen oder Trachtenfesten stattfindet, ist natürlich kein Sündenfall. Wenn allerdings solche Anlässe die einzigen sind, bei denen die Brauchträger in Aktion treten, wenn also beispielsweise junge Narrenzünfte nur von Narrentreffen zu Narrentreffen reisen, ohne im eigenen Ort Fastnacht zu machen, dann fehlt ihrem Tun und Lassen die entscheidende Basis. Dann sollten sie, wortspielerisch ausgedrückt, ihr Tun besser lassen...
 
HP: 4. Welche Schwerpunkte sollen für die Zukunft gesetzt werden?
Es mag platt klingen, aber die wichtigste Devise für alles pflegerische Bemühen um heimatliche Bräuche und Überlieferungen, gleich welcher Art, sollte stets lauten: Soviel Organisation wie nötig, soviel Spontaneität wie möglich. Traditionen sind nämlich nur dann lebendig, wenn sie wirklich dieChance haben zu leben, und das heißt eben auch - sich zu verändern. Der bisweilen erschreckend humor- und kompromißlose Kampf mancher Brauchfunktionäre um die "reine Lehre" dieser oder jener Brauchtradition ist es nicht selten, was lebendige Bräuche erst zu "Pflegefällen" macht.
 
HP: 5. Was bedeutet Ihnen persönlich Heimat?
Heimat ist - das scheint mir wichtig - kein geographisch eingrenzbarer Begriff. Je älter man wird, je größer die privaten oder beruflichen Kreise sind, die man zieht, desto zahlreicher werden auch die Orte, die man als Heimat empfindet, wo man sich heimisch fühlt. Heimat ist überall dort, wo man sich im Kreise von Menschen geborgen fühlt, die einem nicht nur als Bekannte begegnen, sondern die sich als Freunde erweisen - unabhängig von ihrer sozialen Stellung, ihrer Sprache, ihrem Paß, ihrer Hautfarbe. Unter Heimat verstehe ich nichts fertig Vorgegebenes, sondern etwas, woran man täglich arbeiten muß. In dem Maße, in dem wir freundlich auf unsere Mitmenschen zugehen, schaffen wir uns selbst und damit auch anderen Heimat.
 
HP: 6. Hat der Inhalt des Wortes "Heimat" in unserem heutigen Medienzeitalter noch eine Zukunft?
Mehr denn je, sofern "Heimat" im eben geschilderten Sinne verstanden und praktiziert wird. Dies allerdings ist leider nur selten der Fall. Überwiegend wird mit dem Begriff "Heimat" in den Medien nur sentimentale Falschmünzerei betrieben, wobei der Bogen der Negativbeispiele von der "Heimatmelodie" bis zu den "Stimmen der Heimat" reicht. Hier wäre es Aufgabe kluger und profilierter Leute aus dem Bereich der Heimatpflege, von den Medien ein anderes, nicht nur auf Profitmaximierung für dümmliche Unterhaltungsprodukte gerichtetes Heimatverständnis einzufordern.
 
HP: 7. Ist "Heimat und Brauchtum" genügend in den Medien präsent?
Als Worthülsen sind "Heimat und Brauchtum" in den Medien derzeit geradezu allgegenwärtig. Da droht momentan weniger das Vergessen, sondern eher die Gefahr eines - wenn ich diesen Amerikanismus gebrauchen darf - förmlichen "Overkills". Seit Medien wie das Fernsehen die Karte der Regionalisierung spielen, um Einschaltquoten zu sichern, kann man sich vor Heimatlichem auf dem Bildschirm kaum noch retten. Wie unbedacht dabei aber mit den Begrifflichkeiten umgegangen wird, zeigt allein schon die (merkwürdigerweise auch von den Redakteuren des "Heimatpfleger") immer noch beharrliche Verwendung des Wortes "Brauchtum", das die Volkskunde längst nicht mehr benutzt. Von allem, was "tümelt", sollten wir uns verabschieden. Sprechen wir statt von "Brauchtum" lieber schlicht von "Bräuchen". Das ist unverfänglicher und trifft den Kern der Sache eher.
 
HP: 8. Es wird derzeit immer mehr über die mangelnde Bereitschaft, sich an Vereine zu binden, berichtet. Können Sie sich andere Formen, Brauchtum zu pflegen, vorstellen und wenn ja, welche?
Natürlich - und zwar spontane Formen. Was beispielsweise seit gut zwei Jahrzehnten die Abiturienten machen, wenn Sie nach bestandener Prüfung mit irgendeinem mehr oder weniger originellen Abschiedsgag die Schule verlassen, das sind zweifellos neu sich bildende Bräuche. Da ist kein Trägerverein, kein Verband, keine Dachorganisation nötig - das entwickelt sich ganz von selbst. So sind die meisten Bräuche ursprünglich einmal entstanden, und eine gewisse Chance zur Weiterentwicklung der Brauchlandschaft sollte man immer offenhalten. Allzu viel Organisation ist ungesund. In der organisierten Fastnacht wird dies derzeit schon vielerorts deutlich: Je rigider die offiziellen Zunftvorschriften, desto spürbarer das Bestreben vor allem junger Leute, an den Traditionswächtern vorbei ihre eigene Fasnet zu machen. Etwas mehr Liberalität von Seiten der Alten und etwas mehr Offenheit für die Kreativität der Jungen würde den Kontakt Jugendlicher mit der Brauch- und Heimatpflege sicher erleichtern.
HP: 9. Ein großer Teil der heutigen Jugend steht der Heimatpflege ablehnend und kritisch gegenüber. Welche Wege müssen gegangen werden, um unseren Nachwuchs zu sichern?
 
Man sollte die Distanz junger Leute zur gegenwärtigen Form institutionalisierter Heimatpflege nicht von vornherein als Ignoranz sehen. Jugendliche sind nämlich sehr wohl bereit, sich für Dinge, die ihnen wichtig scheinen, als Idealisten zu engagieren. Sie wollen aber weniger Vergangenheit verwalten als Zukunft gestalten, oder frei nach einem Dichterwort: nicht Asche bewahren, sondern Glut entfachen. Insofern sollte sich die Heimatpflege selbstkritisch fragen, ob sie der Jugend wirklich Perspektiven zu bieten vermag, die in die Welt von heute oder gar von morgen weisen, oder ob sie am ewig Gestrigen hängt und mit dem Werben um Nachwuchs im Grunde nur junge Köpfe für alte Hüte sucht. Junge Köpfe - das sollte man wissen - mögen nun mal keine alten Hüte, viel wichtiger wären, um im Bild zu bleiben, junge Hüte für alte Köpfe. Ich denke, Sie verstehen, was ich damit meine.
 
HP: 10. Die Begriffe Vermarktung, Kommerzialisierung und Sponsoring gewinnen auch in der Vereinsarbeit immer größere Bedeutung. Wie stellt sich dies in unserem Bereich dar?
Außer Frage steht, daß Vereinsarbeit - auch solche in der Heimat- und Brauchpflege - mit Kosten verbunden ist. Wenn sich zu deren Finanzierung Sponsoren finden, so sollte man da im Prinzip keine Berührungsängste haben. Wenn diese Sponsoren ihre Kapitalkraft freilich dazu nutzen, um auf Inhalt und Form der Brauchpflege Einfluß zu gewinnen oder gar um deren Objekte für Werbezwecke zu instrumentalisieren, so sind höchste Vorsicht und schleunigste Distanzierung geboten. In einem solchen Fall käme die Annahme von Fremdgeldern durch die Vereine einer Art Prostitution gleich.
HP: 11. Was würden Sie, wenn Sie die Möglichkeit hätten, sofort verändern?
Bilderstürmerische Radikalkuren von einem Tag auf den anderen sind nie gut. Insofern stört mich das Wort "sofort" in der Frage. Die Heimatpflege mit ihren vielen ehrenamtlichen Kräften hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten sicher große Verdienste um die kulturelle Identität unseres Bundeslandes erworben. Wo gewisse Anpassungen an neue Gegebenheiten nötig sind, sollte man diese behutsam durchführen. Lediglich die schon in der Antwort auf Frage 7 monierte altväterlich-betuliche Art, unentwegt vom "Brauchtum" zu sprechen statt von "Bräuchen" - die könnte man sofort verändern, auch im Sprachgebrauch der vorliegenden Publikation: im "Heimatpfleger".

Seitenanfang